Am  18.3. im Landgraf in Linz zur Aids-Charity- Veranstaltung : Glück im Unglück. Liebe in den Zeiten von Aids

Red Ribbon Award „Literatur“ zum Thema:

Liebe in den Zeiten von Aids

Arbeitstitel: GLÜCK IM UNGLÜCK

In Venezia Mestre war er umgestiegen, um 13.34 Uhr. Um 16.48 Uhr sollte er in Riccione sein. Dort würde er aussteigen.
Nein, er war kein echter Aussteiger.
Er war Professor für Philosophie in Tübingen gewesen. Als er 55 war, hatte sein Sohn, 27, einen Managerposten in Hongkong angenommen, sich drei Jahre später bei einem Thailandaufenthalt mit HIV infiziert, und beide lebten seither in der steten Angst vor dem Ausbruch der Krankheit.
Seine Tochter, damals 25, hatte schon drei Jahre davor, obwohl graduierte Soziologin, einen argentinischen Farmer geheiratet und war ihm auf seine Hazienda gefolgt. Sie ließ nur selten von sich hören.
Seine Frau war mit 56 an Krebs gestorben, als er 62 wurde.
Heute, mit 65, hatte er aufgehört, Vorlesungen zu halten, wenngleich er nicht aufgehört hatte, über all das nachzudenken.
Heute war er am Weg zu einem Badeaufenthalt in Italien, erstmals ohne jedes Besichtigungsprogramm, erstmals versucht, gedankenlos zu sein, sich allenfalls dazu zu zwingen, einmal nicht über alles nachzudenken.
Er war allein in einem Abteil zweiter Klasse. Er hatte seine Lektüre zur Seite gelegt, den für ihn etwas konfusen Erstlingsroman „Eine Besessenheit danach“ eines ihm unbekannten österreichischen Autors, den ihm Kollege Bahr empfohlen hatte und in dem der Protagonist immer wieder versucht, an Schlafende heranzukommen, stets bedenkenlos ungeschützt, im blinden Vertrauen darauf, dass die ihm kaum bekannten Frauen ohnehin gesund seien, so als hätte er noch nie etwas von Aids gehört.
Jetzt widmete sich der Professor dem Kreuzworträtsel in der „Zeit“.
In Padoa betrat sie sein Abteil: eine dunkelhäutige Schönheit. Sie mochte 35 sein, war groß, größer als er, mit schlanken Beinen und der Figur eines Models – zumindest hatte er sich ein Model immer so vorgestellt –, mit braunen, aber feurigen Augen, von ebenmäßigem Gesicht.
Sie sprach ihn italienisch an, und als er darauf nur mit „non parlo Italiano“ reagierte, versuchte sie es auf Französisch, das er verstand. Sie bot Uhren, Schmuck und kleine, holzgeschnitzte Elefanten und Figuren an, die sie einzeln aus einem Köfferchen holte.
Er wusste, dass es sich um nachgemachte Markenware und um offenbar laienhafte Holzbildhauerei handelte.
Er hatte keinerlei Interesse, sich damit zu belasten, zumal ihm bewusst war, dass er sich als Käufer der Imitationen gleichfalls strafbar machte.
Aber da ihn die Frau reizte, ließ er sich in ein Gespräch ein. Schließlich kaufte er ihr sogar einen Glückselefanten ab.
Er konnte sie gerade noch nach ihrer Herkunft fragen, ehe sie wieder ging: Sie war Senegalesin.
Als sie weg war, dachte er noch einige Zeit an sie, über sie nach, darüber, wie es sie nach Italien verschlagen haben mochte, darüber, ob sie von solchen verbotenen und Schwarzmarkt-Geschäften wohl würde leben können, wie darüber, wem sie davon wie viel an Gewinn abführen müsste.
In Bologna, um 15,30 Uhr, kam sie plötzlich wieder in sein Abteil, höchst aufgeregt, in ihrer Verstörtheit noch schöner als zuvor. Sie gab ihm zu verstehen, er möge so freundlich sein und sich als ihr Begleiter ausgeben.
Sie verstaute ihr Köfferchen unter einem Sitz und nahm neben ihm Platz.
Und ehe er sich ’s versah, umschlang sie ihn mit ihren starken, schlanken Armen und küsste ihn.
Sie küsste ihn lang, heftig und voller Leidenschaft, und er wusste weder warum noch wozu.
Er merkte nur am Rande, dass währenddessen der Schaffner und zwei Männer das Abteil betraten, sich aber sofort wieder unter Entschuldigungen und mit Bedauern zurückzogen.
Sie ließ von ihm ab und bedankte sich.
Sie bedankte sich. Dafür, dass er sie küssen durfte?
Nein, sie war es ja, die ihn geküsst hatte.
Dass er sich hatte küssen lassen dürfen, danke!
Er erwartete eine Erklärung.
Sie sei Senegalesin.
Das wusste er schon.
Sie lebe ohne Aufenthaltsbewilligung in Italien. Sie habe vor vier Monaten mit Landsleuten in einem überfüllten Boot von Afrika nach Sizilien übergesetzt.
Sie sei ohne Arbeitsbewilligung. Sie verkaufe Pretiosen und Waren ausländischer Herkunft sowie von Senegalesen geschnitzte Holzfiguren, ohne Gewerbeberechtigung. Sie vermischte die Wörter „Immigration“ und „Imitation“, und sie sprach von „Imitaten“ wie von „Intimitäten“ oder „Transplantaten“.
Bis vor zwei Monaten sei sie mit einem am Strand ausgebreiteten Tuch in Rimini gestanden.
Ausländern sei jedoch der Verkauf von Waren an den italienischen Adriastränden seit kurzem verboten.
Seither ziehe sie den Kürzeren.
Einen angemeldeten Stand hätten sie und ein mit ihr gleichzeitig geflüchteter Freund sich nicht leisten können, vermutlich auch nicht bekommen. So schicke er sie in Züge. Sie sollte bis Ancona und dann zurück nach Venedig fahren, Reisenden ihre Waren anbieten und möglichst gute Geschäfte machen. Ihren „Beschützer“ – wie er sich nenne (klang das nicht nach Zuhälter?) – träfe sie kurz vor Mitternacht an der Ponte di Rialto, von ihm bekäme sie die Imitate, die er von Ausländern beziehe, er habe die Holzfiguren und -tiere selbst geschnitzt. Ihm müsse sie den Erlös abliefern.
Nein, ein Verhältnis habe sie mit ihm nicht. Sie sei nur in geschäftlicher Beziehung von ihm abhängig. Käufliche Liebe könne man von ihr nicht verlangen.
Der Professor hatte sich ihr Bekenntnis angehört, ohne sie zu unterbrechen.
Sollte er sie bemitleiden? Sollte er sie wegschicken? Sollte er sie meiden?
Er wusste, dass er Vorschub leistete, was er sich eigentlich nicht leisten konnte.
Er war ein anständiger, ein gesetzestreuer, ein verlässlicher Staatsbürger.
Er riet ihr daher, doch nach Senegal zurückzukehren, hier, in Italien träfe sie nicht auf das große Glück, das sie erwarte, hier bekäme sie nur Schwierigkeiten!
Ihre Eltern seien verstorben, sie habe drüben niemanden mehr, hier nur mitgeflohene Landsleute. Ihr Leben sei ohnehin nur Unglück. Sie habe nichts mehr zu verlieren.
Nach anderthalb Stunden stieg sie mit ihm in Riccione aus. Er lud sie in ein Strandlokal zum Essen ein.
Sie hatte lange nicht so gut gegessen, lange nicht hatte ihr jemand so zugehört.
Er hatte ihr Trost zugesprochen. Er hatte quer über den Tisch seine Hand auf ihre gelegt. Er hatte sogar gewagt, ihr Komplimente zu machen, ehrlich gemeinte, ihr zu versichern, dass sie ausdrucksvolle Augen, ein anmutiges Wesen habe, dass sie von glühendem Temperament sei, dass ihm ihre Art, dass sie ihm gefalle.
Und dennoch, er konnte sie nicht gut in sein Hotel mitnehmen. Er bot ihr an, für sie ein Zimmer zu bezahlen. Sie lehnte ab. Sie wolle die Nacht am Strand zubringen.
Ob sie ihn morgen wieder treffen dürfe? Er sei ihr „sympathique“, „simpàtico“.
Er sagte weder ja noch nein. Er käme morgen an den Strand. Er verabschiedete sich. Sie wagte nicht, ihn zu umarmen, aber sie sah ihm lange nach.
Nachdem er am Zimmer seinen Koffer ausgepackt, seine Kleidung in den Schrank und sein Toilettezeug ins Bad gelegt hatte, setzte er sich aufs Bett.
Er hatte recht daran getan, sich diese Frau – so schön und begehrenswert sie auch sein mochte – nicht aufzuhalsen. Sie war Hals über Kopf in einen ihr fremden Lebenskreis eingedrungen, nun sollte sie zusehen, wie sie zurechtkomme.
Aber er hatte ein unbestimmtes Nahegefühl für sie entwickelt, sie gefiel ihm, sie reizte ihn, er begehrte sie. Und er verstand sie – trotz Fremdsprachenschranke.
Durfte er sie in der Nacht sich selbst überlassen, sie im Stich lassen, sie verstoßen?
War er nicht ähnlich einsam wie sie? Was hatte er angesichts des fortschreitenden Verlustes seiner Familie für seine alten Tage noch zu erwarten?
Andererseits, was sollte er mit einer um dreißig Jahre Jüngeren, mit einer um einige Gesellschaftsklassen Einfacheren, einer unaufholbar Ungebildeteren, einer einem gänzlich anderen Kulturkreis Angehörenden, einer dunkelhäutigen Immigrantin?
Ihre Naivität, ihr Feuer, ihre Schönheit würden vergehen, an Bildung, an Stil, an Lebensart und Umgangsform würde sie nur wenig zugewinnen.
Gleichwohl, war sie nicht seinetwegen mit ausgestiegen? Hatte er sie nicht ihretwegen zum Essen eingeladen? Wer mit welcher Erwartung?
Und dieser überraschende, leidenschaftliche Kuss im Zug!
Auch war sie ehrlich gewesen und hatte ihm keine erfundenen Geschichten erzählt!
Sie würde heute Nacht den Geschäftspartner aus Senegal nicht in Venedig treffen, auch morgen nicht. Sie würde da bleiben, auf ihn, den Professor, am Strand warten, ohne Ansprüche zu stellen.
Dieses Gefühl für sie – ja, es war mehr, als dass sie ihm nur schmeichelte. Er sah in ihr – Gott möge es verhindern! – auch keinen Ersatz für seine ausgewanderte, verlorene Tochter. Noch weniger war er ihr im Entferntesten väterlich begegnet!
Und jetzt saß er hier allein am Bett. Und sie saß allein am Strand.
Er versuchte nicht weiter, seine Gedanken zu ordnen oder Vernunft anzunehmen. Er war lange genug ein besonnener Professor in Tübingen, ein verständiger Vater, drei Jahre lang ein gebührend trauernder Witwer gewesen.
Eine so attraktive, eine so ursprüngliche, so natürliche, eine so unverderbte Frau fände er so schnell nicht wieder! Wenn er überhaupt je noch eine Frau fände!
Wie in Trance stand er auf, verließ das Hotel und ging den Strand entlang.
Hier musste sie irgendwo sein, vermutlich versteckt, damit sie niemand kontrolliere, vertreibe oder aufgreife.
„Siti! Siti!“, rief er gegen die Brandung. Diesen Namen hatte sie ihm genannt. War es ihr Taufname, war es ein Kosename?
„Siti! Siti! Siti! C’ est moi, le professeur!“
Da kam sie aus einem Unterstand für Liegestühle und Sonnenschirme heraus, der offenbar abzusperren vergessen worden war. Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn innig. Und sie küsste ihn – wie im Zug. Nur dass er jetzt darauf gefasst war, darauf gewartet hatte und sie ebenso leidenschaftlich zurückküssen konnte. Sie zog ihn auf eine am Strand zurückgelassene Liege.
Als er versuchte, ihr das Top über den Kopf zu ziehen, gebot sie ihm Einhalt. Vorher müsse er wissen, dass ihre Eltern beide an Aids verstorben seien und dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach gleichfalls HIV positiv sei, wenngleich sie noch nie Gelegenheit hatte, es überprüfen zu lassen.
Dann nahm sie ihn an der Hand und steuerte mit ihm auf den Bahnhof zu. Vor der Toilette hatte er begriffen, was sie wollte. Er ging allein hinein und drückte sich eine Packung Kondome aus dem Automaten.
Einander eng umschlingend, kehren sie an den Strand zurück.
Sie stellen zwei Liegen nebeneinander.
Nun beginnt sie, sich auszuziehen. Er starrt sie fasziniert an. Fahles Mondlicht streicht über ihre Brüste, doch ihre Scham liegt im Dunkel.
Als sie sich neben ihm auf die Liege niederlässt, ist er noch immer bekleidet. Sie zieht ihn unter Küssen aus.
Er bedeutet ihr, noch nie ein Kondom verwendet zu haben.
Sie hilft ihm, es überziehen.
Sie finden zueinander.
Nachdem sie einander gefunden hatten, lagen sie noch lange zärtlich beieinander.
Schließlich nahm der Professor Siti an der Hand und geleitete sie in sein Hotel, wo er sie als seine Lebensgefährtin anmeldete.