Heinz-Helmut Hadwiger

DIE NONNE ALS VAMP

Mit dem Auto war ich in Richtung Bosnien-Herzogowina unterwegs. Ich folgte der E 73, die der nationalen M 17 entspricht, und dem blauen Vorwegweiser: Krivoglavci. Im Bezirk Raska der Region Sandzak wollte ich von Ribarici aus Ilias erreichen, was eher einer Odysee glich, da es in gleicher Entfernung von 1 km ein Ilijas gibt, in dem ich vergeblich das Haus meiner Tante Mary suchte.
Nachdem ich mir der Verwechslung bewusst geworden war, kam ich alsbald an mein Ziel. Im Nebenhaus der Tante wohnt deren Schwester Elvira mit ihrem Mann Tom. Bei ihnen sollte ich den Hausschlüssel abholen, da meine Tante überraschend nach Kroatien hatte fahren müssen, weil sich mein Onkel Iwan die Hand gebrochen hatte. Sobald er wieder fahrtüchtig wäre, würden sie nachkommen. Ich sollte mich inzwischen einquartieren und mich ganz wie zuhause fühlen.
Elvira und Tom bereiteten mir ein herzliches Willkommen, luden mich auf einen Imbiss ein und stießen mit einem feinen Sliwowitz Zufanek auf meinen Urlaub an. Dann begleitete mich Tom in das Haus seiner Schwägerin, wo ich die Wohnung im Parterre beziehen sollte, indes meine Tante Mary den 1. Stock mit einem eigenen Eingang an der Rückseite des Hauses bewohnt, von wo aus sie auch in ihre Garage gelangen kann, während ich mein Auto südlich davon auf der Promenade vor dem Haus abstellte.
Mein Onkel zeigte mir das für mich vorbereitete Schlafzimmer, das Bad und die Wohnküche, in der mir Mary zur Begrüßung einen Teller mit Käse, Wurst und Brot sowie eine Flasche Grasevina aufgestellt hatte, einen Weißwein aus ihrer engeren Heimat, Kroatien.
Nachdem mich mein Onkel verlassen hatte, packte ich meinen Koffer und meine Reisetasche aus und verstaute meine Wäsche und mein Toilettezeug. Dann setzte ich mich in die Wohnküche, entkorkte die Weinflasche, schenkte mir ein Gläschen ein und las in meinem Reiseführer über die wichtigste Sehenswürdigkeit der Umgebung nach, über das Manastir Crna Reka, das Kloster Crna Rijeka, benannt nach dem „Schwarzen Fluss“:
Zu diesem Namen kam es der Legende nach, weil Ioanikios von Devic, der Gründer, durch das Tosen des unterhalb des Klosters vorbeirauschenden – damals noch weißen – Flusses in seinem Gebet so gestört war, dass er Gott bat, er möge den Fluss verschwinden lassen, wonach dieser oberhalb des Klosters in den Berg floss und erst 500 m unterhalb wieder an die Erdoberfläche trat. Wo Ioanikios betete, sei heute noch der Abdruck seiner Schulter im Stein zu sehen, weshalb diese Stätte als heilig gelte.
Als ich dies und die weiteren geschichtlichen Anmerkungen las, ahnte ich freilich noch nicht, dass ich schon früher als erwartet mit dem Kloster wundersame Bekanntschaft machen würde.
Das 3 km von Ribarici entfernte Kloster stammt aus dem 14. Jahrhundert, sein ältester Teil ist die dem Erzengel Michael geweihte Höhlenkapelle. Außerdem beherbergt es die Reliquien des bedeutenden serbischen Heiligen Petrus von Korisa, die von dort vor den Türken in Sicherheit gebracht worden waren, wodurch das Kloster über ein wichtiges Heiligtum verfügt.
Das mittelalterliche Bauwerk ist noch getreu erhalten, thront auf einem Felsen und ist über eine alte, ursprüngliche Holzbrücke erreichbar, die man früher hochzuziehen pflegte.
Mit dieser Erkenntnis zog ich mich vom Küchentisch hoch und in mein Bett zurück, wenngleich ich auch nicht sofort einschlafen konnte. Gedanken beschäftigten mich bis 23 Uhr, ob denn meine Tante gut in Kroatien in Novi Vinodolski angekommen sei, ob sie ihre Wohnung im Haus oben auch ordentlich versperrt habe, ob es ihrem Iwan wohl schon besser gehe.
Unvermittelt nahm ich über mir einen dumpfen Laut wahr, so als ob ein schwerer Gegenstand zu Boden gefallen wäre. Ob meine Tante vielleicht doch nicht heimgefahren und die Nacht über noch da geblieben war?
Dann trat wieder Stille ein, bis ich das deutliche Knarren einer Tür zu hören vermeinte. Danach wieder minutenlange Stille.
Vielleicht war das Geräusch nur aus einem Nebenhaus gekommen.
Da erspähte ich zwischen den nicht ganz zugezogenen Vorhängen den Schein der Gartenlaterne, die angezündet worden war, um vorzutäuschen, das Haus sei ständig bewohnt. Der Lichtschein fiel an die Wand neben meinem Bett. Plötzlich verfinsterte er sich, und an der Wand erschien der Schatten einer langen, dünnen Gestalt.
Neugierig eilte ich ans Fenster und sah eine Person in einer grauen Kutte unter der Palme im Vorgarten stehen. Eine Frau, schloss ich aus ihrem schwarzen, schulterlangen Haar. Sie lud mich mit einer Handbewegung ein, zu ihr hinaus zu kommen. Ohne nachzudenken, wie hypnotisiert, folgte ich ihrer Geste. Überraschend gab sie mir die Hand: ein fester, energischer, ja, männlicher Händedruck, der schmerzte. Sie bedeutete mir, ich möge ihr folgen.
Vor einem an eine Zypresse angelehnten Tandem-Rad hielt sie an, sie schwang sich auf den vorderen Sattel und forderte mich auf, hinten Platz zu nehmen. Die Ausgefallenheit des Ausflugs fand meinen Gefallen. Wir radelten zwei, drei Kilometer, etwas bergan, bis wir an ein im Dunkeln imposant wirkendes Gebäude gelangten. Hier stellte die Fremde das Tandem ab und holte auch mich herunter. Über eine Holzbrücke gingen wir Hand in Hand – sie hatte mich, ohne Einwand zu dulden, angefasst – zu einem schmiedeeisernen Tor, an das sie irgendwo gedrückt haben musste, weil es unversehens aufsprang. Durch einen kargen Vorhof zog mich die Fremde – jetzt erkannte ich an der Kutte die Nonnentracht – zum Stiegenhaus und hinauf ins zweite Obergeschoss, schlurfte mit ihren Schlapfen oder (in der Klostersprache) Herrgottssandalen den Gang entlang bis an eine vermoderte Holztür, die sie mit einem Griff in den steinernen Rahmen rechts öffnete.
Nachdem sie eine Kerze angezündet hatte, sah ich, dass wir in einer Klosterzelle standen, mit einer Holzpritsche, einem kleinen Tischchen und einer Gebetsstufe im Felsen.
Ehe ich noch Fragen stellen konnte – mir war inzwischen klar geworden, dass wir uns im vom Reiseführer als äußerst sehenswert empfohlenen Kloster Crna Reka befanden –, warf die stumme Nonne ihre Kutte ab und stand vor mir, wie Gott sie erschaffen hatte: schlank und ansehnlich, eine Augenweide von alabasterner Durchsichtigkeit, umrahmt von ihrer kohlrabenschwarzen Mähne. Bevor ich mich noch an dieser Ikone – ich befand mich ja in einem serbisch-orthodoxen Kloster – sattsehen konnte, machte sie mir unmissverständlich verständlich, ich sollte gleichfalls meine Kleidung ablegen. Die Scham wich meiner Überraschung. Ich entkleidete mich schnell und kroch unter die raue Decke. Die nackte Nonne legte sich neben mich und schmiegte sich eng an mich, so dass mich ein Schauer überlief, den ich nicht zu deuten vermochte: War es die Furcht vor einer ungewissen Weiterung? War es eine erotische Initialzündung?
Als sie ihren Kopf zu mir drehte, erwartete ich ihren Kuss. Sie entzog mir jedoch ihre Lippen und presste sie mit überraschender Heftigkeit an meine rechte Halsseite, und statt der erhofften, zärtlichen Umarmung verspürte ich die beklemmende, zangenartige Einengung einer Fesselung. Ich wich nach links aus, um mehr Luft zu bekommen.
Da klopfte es laut an der Zellentür. Die Nonne machte mir ein Zeichen, ich möge mich still verhalten, und forderte mich durch Gebärden auf, die Zelle durch ein kleines Fenster an der Außenwand schleunigst zu verlassen. Ich raffte meine Kleider zusammen und zwängte mich durch die enge Öffnung, bis ich auf einem steinernen Sims im Freien stand und mich in eine ungewisse Richtung entlang der Klostermauer vorantastete, ohne mir der Gefahr bewusst zu sein, dass ich jeden Augenblick abstürzen könnte. So gelangte ich an die Hausecke, wo ich im schwachen Mondschein einen Vorbau unter mir erspähte, auf den ich einen Sprung wagte.
Auf dem Dach zog ich meine Kleider an. Kurz danach fand ich eine passable Abstiegsmöglichkeit und trat einigermaßen verzweifelt den Heimweg zu Fuß an, von den abenteuerlichsten Gedanken gepeinigt, was wohl so schlagartig unser Schäferstündchen verhindert haben mochte.
Meiner Übermüdung verdankte ich, dass ich trotz vielerlei Zweifel alsbald einschlief.
Durch ein lang anhaltendes, quietschendes Geräusch wurde ich geweckt, das ich als Versuch deutete, das Eisentor zur Garage über mir zu öffnen. Im Pyjama jagte ich die Stufen neben dem Haus empor und sah gerade noch, wie ein großer, weißer Lieferwagen mit der gut leserlichen Aufschrift „Biofrost“ und mir unverständlichem Bosnisch von der Terrasse vor dem Eingang zur Wohnung meiner Tante ausscherte.
Was wird der Fahrer wohl gewollt haben? Nur eine Zustellung? Oder?
Als ich mich eben davon überzeugen wollte, ob die Eingangstür versperrt sei, ging diese behutsam auf und ein männlicher Kopf lugte vorsichtig hervor, nach allen Seiten. Mich bemerkend, gab er seine Deckung auf, trat heraus und auf mich mit dem Wort zu: „Mrtav“.
Dann stürzte er an mir vorbei, lief in Panik zu seinem auffälligerweise einige Seitengassen entfernt abgestellten Auto und brauste davon.
Unschlüssig ging ich zur angelehnten Wohnungstür, und in böser Vorahnung betrat ich das Haus. Meine Tante lag in ihrem Bett, bleich und unbeweglich, eine Art grauen Stoffgürtel oder eine graue Kordel um den Hals.
Mit einem Male wusste ich, das „mrtav“ tot heißt.
Sie war also nicht mehr weggefahren, sondern davor schon – wie auch immer – verstorben. Eines natürlichen Todes? Oder durch Mörderhand?
Jedenfalls schied der letzte Besucher, wenn er nicht stundenlang bei ihr gewesen war, damit als mutmaßlicher Täter aus. Auch der „Biofrost“–Lieferant, der zudem die Wohnung gar nicht betreten haben dürfte, sonst wäre er ja auf den Besucher vor ihm gestoßen. Offenbar hatte er sich damit begnügt, bei seiner Ankunft anzuläuten, und, als sich niemand meldete, noch das Eisentor zur Garage geöffnet – welcher Lärm mich geweckt hatte –, um sich davon zu überzeugen, dass Marys Auto noch da war, dann hatte er aber seine Lieferung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
In meiner Ratlosigkeit verständigte ich Onkel Tom und Tante Elvira im Nebenhaus. Tom meinte nur kurz und ohne sichtbare Teilnahme: „Also ist sie doch nicht weggefahren!“, während Elvira verzweifelt aufschrie: „Du hättest sie ja auch nicht gar so rücksichtslos vor den Kopf stoßen müssen!“ und dann in ein lang anhaltendes Schluchzen verfiel.
Wir sprachen ihr Trost zu. Kaum hatte sie sich einigermaßen beruhigt, begleiteten mich die beiden in Marys Schlafzimmer, wo Tom, nachdem sich sein Schrecken gelegt hatte, versuchte, von Marys Hals den Gürtel zu entfernen, der sich dabei als Strick herausstellte und offenbar zum Erdrosseln verwendet worden war. Das bestätigten die blau verfärbten Hämatome und die Muskelblutungen rund um den Hals sowie an einer Stelle seitlich ausgetretenes Blut, das bereits angetrocknet und verkrustet war.
Arme Tante, ich hatte nicht erwartet, sie so wiederzusehen.
Die Totenstarre war schon eingetreten.
Uns blieb nur, die Kriminalpolizei zu verständigen.
Die Mordkommission und die Spurensicherung trafen ein. Wir wurden gefragt, was wir an der Leiche und am Tatort verändert hätten, und aus dem Haus geschickt, worauf wir uns bei Elvira und Tom daheim zusammensetzten, Mutmaßungen über den Mord anstellten und darüber, dass wir nichts davon bemerkt hatten. Als wir noch besprachen, wer Iwan, den Mann der Toten, verständigen solle, und, ob telefonisch, nahm sich der leitende Kommissar dieser Aufgabe an, wobei er Iwan auftrug, unverzüglich anzureisen, als hätte er ihn in Verdacht. Und nachdem ihm Elvira bestätigt hatte, das Haus habe Mary allein gehört, hatte der Kommissar auch sein Motiv: Iwan würde es allein erben.
Die weitere Hypothese des Kriminalisten, die Ehe Marys wäre ernstlich zerrüttet gewesen und die beiden hätten nur mehr gestritten, ließen Elvira und Tom nicht gelten. Mary habe zwar im Sommer viele Wochen allein hier gelebt und ihre Gäste betreut, allerdings mit Iwans Einverständnis, der lieber am Velebiter Kanal blieb, demnach am Haus in Ilias nicht interessiert war.
Trotzdem würde der Kommissar Iwans Alibi überprüfen.
Kurz nach dem Eintreffen der Fahrzeuge der Mordkommission war als erster neugieriger Nachbar Ivo Prsar herbeigeeilt. Kaum dass er vom Tod Marys erfahren hatte, brach er in die für ihn offensichtlich erfreuliche Feststellung aus:
„Na, hat es die alte Zwiderwurz endlich erwischt.“
Tom erklärte mir und dem über so viel Offenheit überraschten Kommissar, dass Ivo mit Mary wegen eines Grundstückes zerstritten war, das an seines angrenzte und das er gern erworben hätte, während Mary nicht bereit war, es ihm abzutreten, ungeachtet der Tatsache, dass sie es selbst weder brauchte noch bewirtschaftete.
Schon wieder ein Motiv!
Der Kommissar trug einer Handvoll Kriminalbeamter „bei Gefahr im Verzug“ – wie er es nannte – auf, das Haus von Ivo Psar, der noch dazu lediglich versichern konnte, die letzte Nacht allein zuhause zugebracht zu haben, welches Alibi niemand bestätigen könne, aufs Gründlichste zu durchsuchen und vor allem nach einem grauen Kleidungsstück Ausschau zu halten, zu dem der bei der Toten zurückgelassene Gürtel, der von ihm makaber „das Halsband“ genannte Strick, passen könnte.
Nach zwei Stunden kam die Fehlmeldung, und Ivo durfte sich wieder auf sein Anwesen zurückziehen. Seine Schadenfreude über den Tod der unliebsamen Nachbarin war dem Ärger über seine Einschränkung durch die polizeilichen Ermittlungen gewichen.
Nach weiteren zwei Stunden kamen die Beamten zurück, die in der Umgebung nach allfälligen Wahrnehmungen gefragt und etwaige Zeugen zu ermitteln gehofft hatten. Niemand habe verdächtige Geräusche gehört, lediglich, dass ein Ausländer mit einem in Österreich zugelassenen Wagen am Nachmittag auf der Promenade vorgefahren sei, wo sein Auto noch immer parke, sei ihnen aufgefallen.
Damit rückte ich in das Interesse des Kommissars: Was ich denn hier zu suchen habe? Ob ich vielleicht auf das Haus der Tante aus war? Wo ich die Nacht verbracht habe?
Als sich Tante Elvira einschaltete und für mich bürgen wollte, vorbrachte, welch lieber Junge ich wäre, zu so einer Tat keineswegs fähig, außerdem hätte ich die Nacht in der Wohnung darunter zugebracht, wand der Kommissar nur lakonisch ein, gewiefte Mörder erkenne man eben auf den ersten Blick gar nicht, und fragte die Tante scheinheilig, ob sie etwa die ganze Nacht bei mir gewesen sei, so dass sie ausschließen könne, ich hätte meine Unterkunft verlassen und sei bei Tante Mary eingedrungen.
Eingedrungen? Das Schloss an der Eingangstür war doch nicht beschädigt noch war sonst gewaltsam eingebrochen worden. Dies spreche dafür, dass die Ermordete den Täter oder die Täterin freiwillig eingelassen habe. Da selbst im Schlafzimmer keinerlei Spuren eines Kampfes oder einer Auseinandersetzung zu finden waren, müsse der tödliche Angriff überraschend erfolgt sein.
Damit hätten – meinte der übereifrige Kommissar – wir nahen Angehörigen recht gehörigen Erklärungsbedarf.
Ein weiteres Indiz glaubte er entdeckt zu haben: Vom Bett des Opfers über den Gang und durch die Eingangstüre führen Schleifspuren, wie sie jemand hinterlässt, der beim Gehen die Füße zu wenig anhebt oder sie gar nachzieht. Auffällig sei, dass diese Spuren über die Stiege an der Seite des Hauses hinunter bis zum Eingang der von mir benützten Wohnung zu verfolgen seien, wo sie im Gras davor endeten, so als sei der Täter – der Kommissar hatte unzweifelhaft mich im Auge – in die Wohnung im Parterre „zurückgekehrt“.
Ich musste über seine Aufforderung mit einer „Gehprobe“ beweisen, dass ich dabei meine Füße nicht nachziehe. Sicherheitshalber ordnete er auch eine Nachschau in meiner Unterkunft an, nach Schuhwerk, das solche Spuren hätte hinterlassen können. Ein Paar Schuhe mit Ledersohlen stellte er sicher, um sie der kriminaltechnischen Untersuchung zuzuführen.
Gleichzeitig wurde das Alibi Elviras und Toms verlangt, wobei sie getrennt verhört wurden. Während Tom angab, den Abend über und die ganze Nacht bis zur Auffindung der Leiche durch mich zu Hause gewesen zu sein, was seine Frau bezeugen könne, widersprach ihm diese, indem sie behauptete, er habe zwischen eins und zwei Uhr früh das Haus für ungefähr eine Stunde verlassen.
Nun musste Tom einräumen, wegen Schlaflosigkeit spazieren gegangen zu sein.
Ob er denn da nicht noch bei seiner Schwägerin vorbeigeschaut habe, ein letztes Mal?
Er, Tom, und Elvira seien doch der Überzeugung gewesen, Mary hätte noch am späten Nachmittag, nachdem sie sich von ihnen verabschiedet hatte, die Fahrt nach Kroatien angetreten.
Vielleicht habe, so warf der Kommissar ein, Tom ihr davon wieder abgeraten und sie – wie einer Äußerung eines Nachbarn zu entnehmen war – erneut dahin angegangen, dass sie ihr Haus seinem Sohn anstatt ihrem Iwan testamentarisch vermache. Darüber habe – so der Nachbar – schon seit einiger Zeit eine heftige Diskussion bestanden.
Da hätte er, hielt Tom entgegen, seine Schwägerin doch nicht umgebracht, ehe sie das Testament geändert hätte, weil ja ihr Tod geradezu seinen Plan, seinen Sohn zum Erben zu machen, vereitelt hätte.
Möglicherweise sei er über die ablehnende Haltung seiner Schwägerin so erzürnt und erbost gewesen, dass er sie erdrosselt habe.
Die gerichtliche Obduktion würde noch mehr Klarheit verschaffen, habe der Polizeiarzt versichert, der lediglich die Drosselmarke am Hals der Toten eindeutig erkannt haben wollte, mehr Klarheit, was den Todeszeitpunkt und die damit verbundenen Indizien anlangte.
Wir sollten uns jedenfalls zur Verfügung der Polizei halten.
Damit blieb jeder von uns mit seinen Vermutungen, wie es zu Marys Tod gekommen sein könnte, allein.
Wieder in meiner Wohnung, über deren Unordnung ich mich ärgerte, die die Polizei durch ihre Stöberei zurückgelassen hatte, fragte ich mich schließlich, warum ich dem Kommissar gegenüber mein nächtliches Abenteuer mit der Nonne verschwiegen hatte. Es gehe ja nicht um meine sittliche Ehrenhaftigkeit, sondern um die Aufklärung eines Mordes; auch hätte ich damit für die Stunde vor Mitternacht ein unumstößliches Alibi gehabt.
Dies wog umso schwerer, als wir tags darauf das Ergebnis der gerichtlichen Obduktion erfuhren, wonach der Tod durch Erdrosseln zwischen 22 und 1 Uhr des nächsten Tages eingetreten sei.
Dadurch war aber auch Onkel Tom rehabilitiert, der seinen Spaziergang mit Sicherheit erst nach 1 Uhr unternommen hatte.
Als besonderes, nicht schon bei der ersten Leichenschau erkennbares Anzeichen habe die Obduktion ergeben, dass das Opfer an der Halsseite, an der vertrocknetes Blut klebte, zwei nagelgroße Einstiche in einer Entfernung von fünf Zentimetern zueinander aufweist. Ihre Herkunft könne sich der Obduzent nicht recht erklären, zumal er nicht wisse, welches Werkzeug der Täter dafür angewendet habe, Messer sei es keines gewesen, dass er zwei Nägel unabhängig voneinander in den Hals des Opfers geschlagen habe, sei eher unwahrscheinlich.
Übrig bleibe noch die denkmögliche Vorstellung, die beiden Löcher stammten von spitzen Eckzähnen, ohne dass sich das ganze Gebiss am Hals abgedrückt habe.
Bei diesen Worten des Kommissars griff ich mir unwillkürlich an die rechte Halsseite, als verspürte ich einen Biss.
Dann brach alle Zurückhaltung in mir zusammen, und ich legte dem Kommissar meine Schlüsse dar:
Die Nonne, die sich mir als verführerischer Vamp genähert hatte, sei nach dem Mord in ihren Herrgottsschlapfen zu meiner Wohnung heruntergekommen, wobei sie die sichergestellten Schleifspuren verursacht habe. Ich hatte sie in ihrer grauen Kutte im Licht der Laterne wahrgenommen, jener grauen Kutte, deren Kordel sie um den Hals der Tante geschlungen hatte, sie zu erdrosseln.
Ich sei der offenbar Stummen, die kein einziges Wort an mich gerichtet, sondern mir nur durch Gesten zu verstehen gegeben hatte, was sie von mir wolle, in der fälschlichen Erwartung eines erotischen Abenteuers auf dem Tandem bis zum Kloster gefolgt und dort bis in ihre Zelle. Als sie gerade zum Biss in meinen Hals angesetzt habe, sei sie durch ein Klopfen an der Zellentür daran gehindert worden und habe mir die Flucht durch eine Fensterluke nahegelegt.
Nun erst kam mir mit Erschrecken zum Bewusstsein, dass ich das nächste Opfer des als harmlos-verführerischen Vamps getarnten Vampirs hätte sein sollen!
Vampire, warf der erstaunte Kommissar ein, gebe es keine mehr, weder in Siebenbürgen noch hier.
Was nichts daran ändere – gab Onkel Tom zu bedenken –, dass sich manch geisteskranke Menschen wie Vampire aufführen zu müssen dächten. Das Kloster Crna Reka sei seit einiger Zeit ein Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige, die dort von den Mönchen betreut würden. Auch seine Schwägerin Mary habe diese Klienten infolge ihres Helfersyndroms öfter aufgesucht, an der Gesprächstherapie teilgenommen und zu ihnen menschlichen Kontakt gehalten. So ist auch begreiflich, dass die als Nonne aufgetretene Suchtgift-Userin sie kannte und Mary sie selbst nachts einließ, weil sie glaubte, ihr helfen zu müssen.
Der Kommissar zweifelte noch an meiner fantastischen Schilderung und fuhr, um sich Gewissheit zu verschaffen, ins nahe Kloster, allenfalls auch, um die der Tat überführte Mörderin sofort zu verhaften.
Nach nicht einmal einer Stunde kam er ohne die Mörderin zurück:
Der für dieses Mädchen verantwortliche Pope oder Klosterbruder habe ihm bestätigt, dass so eine Drogenabhängige hier untergebracht war. Sie habe an Schizophrenie gelitten und sich bei ihren Schüben eingebildet, sie sei ein Vampir. In dieser Zwangsvorstellung sei sie wohl auf Beute ausgezogen. Als er sie kurz vor Mitternacht nach ihrer Rückkehr, die er zufällig an dem an die Klostermauer angelehnten Tandem erkannt habe, zur Rede stellen wollte, sei sie ihm nach Öffnen ihrer Zellentür nackt entgegengetreten und habe von ihm mit der Behauptung, sie habe die Kordel ihrer Kutte verloren, Ersatz verlangt.
Um Lärm und eine größere Unstimmigkeit zu vermeiden, habe er ihr seine Kordel überlassen und sie zur Nachtruhe ermahnt.
Als er sie am Morgen in ihrer Zelle bei unversperrter Tür aufgesucht habe, sei sie schon tot gewesen: An der Kordel erhängt.
Ein trauriges Ende für einen verführerischen Vamp, der ein Vampir hatte sein wollen.