Heinz-Helmut HADWIGER

„Nicht Ewiges kann das Glück uns geben,
denn flüchtiger Traum ist Menschenleben,
Und selbst die Träume sind ein Traum!“
(Calderon, Das Leben ein Traum, II,14, Sigismund)

DER ENDZEITTRAUM DER GRUFTI-BIRGIT

Ohne dass sie Malewitsch kannte noch von seiner Marotte wusste, in einem Sarg zu schlafen, hat die Freundin meiner Tochter Julia, Birgit, schon während ihrer Mittelschulzeit eine Tischlerlehre begonnen, mit dem vornehmlichen Zweck, Särge zimmern zu können.
Birgit war ein „Grufti“ oder – um es feiner zu definieren – sie huldigte der „Gothic“-Kultur, einer vielseitigen Subkultur, die ab Anfang der 1980er Jahre stufenweise aus dem Punk- und New-Wave-Umfeld hervorgegangen war und sich aus mehreren Splitterkulturen zusammengesetzt und auch die sogenannte „Schwarzen Szene“ bestimmt hatte. Deshalb kleidete sich Birgit immer schwarz, wozu ihr auffällig weiß geschminktes Gesicht gespenstisch kontrastierte.
Und weil sie fest daran glaubte, der Schlaf sei der Zwillingsbruder des Todes, zog sie es vor, in einem Sarg zu schlafen, damit sie – sollte sie während des Schlafes der Tod überraschen – nicht umgebettet werden müsste. In Abwandlung eines Satzes von Tabori ließe sich über Birgit sagen, sie hielt sich fit, indem sie ihren Tod probte.
Niemanden aus ihrem Umfeld verwunderte es, dass sie in ihrem jeweiligen Sarg – denn sie wechselte von Zeit zu Zeit ihr Schlafgehäuse – die sonderbarsten Träume hatte.
Während einer Nacht, da Julia, meine Tochter, bei ihr schlief (für Gäste gab es sogar herkömmliche Betten), weckte Birgit sie. Sie habe eben einen eigenartigen Traum gehabt, und nun könne sie nicht weiterschlafen. Schliefe sie weiter, vergäße sie den Traum wieder.
Es sei ein melancholischer Traum gewesen, ein gewaltiger! Man könne vom Leben – habe Musil geäußert –, wenn es gewaltig sei, nicht auch noch verlangen, dass es gut sein solle.
Es sei kein guter Traum gewesen. Sie habe ihn wie den Übertritt von verbrannter, schwarzer Galle in ihr Blut empfunden; so habe die antike Medizin die Entstehung von Melancholie erklärt.
Der Traum habe „schön“ begonnen: Sie sei auf einer unendlichen Wiese inmitten unberührter Natur gestanden. Das habe sie an Schlegels Worte erinnert: „ Schönheit ist, was an Natur erinnert.“ Plötzlich sei ein Skelett an sie herangetreten, habe ihre Hand erfasst und sie mit sich in die Feldhofer Grotte im Neandertal bei Düsseldorf gezerrt, wo es ihr von dem dort gehorteten Fleischvorrat angeboten habe. Auch habe es sie zu einem Bestattungsort gebracht, wo wohl einer seiner Toten lag. Es habe mit ihrem Verständnis gerechnet, weil es – wie es zum Ausdruck gebracht habe – sehr wohl wisse, dass sie in einem Sarg schlafe. Dieser homo sapiens neanderthalensis, dessen robuste Knochen mit dicken Kniegelenken Birgit förmlich „ in die Augen gesprungen seien“, habe sie zu von fern her klingenden Trommeln zum Tanz gebeten. Der Rhythmus habe sich derart gesteigert, dass sie kaum mehr mithalten habe können. Dadurch habe sie dem Höhlenmenschen auf den Fuß getreten, dass er laut aufgeschrien habe und durch einen Felskamin in den Berg entschwunden sei.
Ihre Hoffnung, damit die 170.000 Jahre Vergangenheit überwunden zu haben, sei aber trügerisch gewesen: Mit einem Male sei der Beatlessong „Lucy in the sky with diamonds“ in der Höhle erklungen und das berühmteste, ihr bekannte Fossil des australopithecus afarensis, das 1974 gefundene Skelett von Lucy, sei leibhaftig – oder genauer gesagt: knochenhaftig – vor ihr gestanden und habe sie darauf hingewiesen, dass sie, Lucy, immerhin ein Schädelvolumen von über 400 ccm aufweise und dadurch mit jedem heutigen Schimpansen mithalten könne.
Lucy habe Birgit an der Hand genommen und sei mit ihr über den Kontinent geschwirrt, sie habe ihr an einem Ort, der ihr bisher kein Begriff gewesen sei – sie erinnere sich an „Laetoli“ – 3,6 Millionen Jahre alte Fußspuren einer Hominidenart gezeigt, die sich sowohl in aufrechtem Gang als auch auf allen Vieren und in den Bäumen bewegen habe können.
Lucy habe Birgit dann ein 2 ½ Millionen Jahre altes, grazileres Knochenwesen, das dazumal keine 50 kg gewogen habe und nur 1,40 m groß gewesen sei, ein beispielhaftes Exemplar des australopithecus africanus gezeigt und im Vergleich dazu die äußerst robusten Formen des australopithecus robustus und des austarolpithecus boisei, schließlich auch ein Muster jenes Hominiden, der mithilfe seiner großen Backenzähne und der im gewaltigen Kiefer ausgeprägten Kaumuskel einen riesigen Scheitelkamm entwickelt habe, weshalb man ihn „Nussknackermensch“ genannt habe.
Lucy habe sich aber mit diesen „Ur-Vieh-Menschen“ – wie sie es genannt und wozu sie sich selbst auch gezählt habe – nicht weiter aufgehalten, sondern habe mit ihr, Birgit, im Fluge die Besiedlung der Erde in all ihren Etappen nachvollzogen, wie die erste Auswanderungswelle aus Afrika vor 1,6 Millionen Jahren Java erreicht und wie sich die Gattung des homo erectus vor 1 Million Jahren über ganz Eurasien verbreitet habe, wie sich schließlich der moderne homo sapiens durch eine zweite große Auswanderungswelle vor 150.000 bis 80.000 Jahren mit der auf dem eurasischen Kontinent ansässigen Population vermischt habe.
Lucy habe Birgit von der Eiszeit am Ende des Pleistozäns vor rund 20.000 Jahren erzählt, wodurch es zur Besiedlung von Australien und Amerika gekommen sei. Dann habe sie mit Birgit noch einen Abstecher nach Chile unternommen – so eine faszinierende Reise habe Birgit bisher noch nie erlebt – und ihr die Skelettfunde vom Monte Verde gezeigt, sogar ein Mammut hätten sie schließlich noch gesehen, wie es vor über 11.500 Jahren in Clovis gelebt habe.
Plötzlich habe Lucy, als sie schon in der Jetztzeit angelangt und eben über Shanghai das Expo-Gelände 2010 bewundert hätten, über bleierne Müdigkeit geklagt und sei mit einem Mal ins Meer gesprungen, nicht bevor sie Birgit prophezeit habe, die Erde werde nach einer weiteren Eiszeit unversehens ihren Kurs ändern und als glühender Himmelsball ins All ausbrechen, dadurch werde der Kontakt zu allen unzähligen bis dahin errichteten Weltraumstationen unterbrochen werden und der Himmelskörper werde eine Reise ins Unendliche antreten.
Aus schierer Angst davor sei Birgit erwacht und habe sich zu Julia ins Bett geflüchtet.
Sie überlege ernsthaft, ob sie fortan in einem Sarg schlafen und solche Träume in Kauf nehmen müsse.