EIN HOFFNUNGSLOSER FALL!

Bogdan war unser Requisiteur, überaus zuverlässig. Sobald wir ein neues Stück probten, fertigte er eine nach Akten und Szenen getrennte Checkliste an und trug alle Hilfsmittel dafür sorgfältig dort ein und in seiner Requisitenkammer zusammen. Schon während der Stell- und Sprechproben bestand er darauf, dass wir Schauspieler mit den Requisiten aufträten und insofern zu einem zusätzlichen Kontrollorgan wurden, als wir, hatten wir uns erst einmal daran gewöhnt, mit allen – Bogdan nannte es so – „Accessoires“ zu spielen, manchmal schon vor Probenbeginn an ihn herantraten und diese einforderten. Dadurch ersparten wir uns jedenfalls alle Peinlichkeiten, wie sie Schauspielern passieren, die auf der Bühne von unsichtbaren Gegenständen reden müssen, weil sie sie davor auszufassen vergessen hatten. Sie stellten dabei zwar ihre pantomimischen Fähigkeiten unter Beweis, andererseits sorgten sie meist für unfreiwillige Komik, da sich das Publikum fragte, woher sie etwa die Fantasie nahmen, bei einem – laut Regieanweisung – ausschweifenden Gelage mit vollen Flaschen und mit Gläsern zu hantieren, die überhaupt nicht vorhanden waren, wodurch ihre aufeinander abgestimmten Bewegungsabläufe aus dem Ruder liefen: Schließlich vermochten selbst verzweifelt ausgestoßene Quietsch- oder Presstöne das Geklirr und Zersplittern des Glases nicht zu ersetzen.
Umso peinlicher war es, als bei den Proben von Molières „Eingebildetem Kranken“ requisitenmäßig alles drunter und drüber ging. Immer wieder beklagte sich Bogdan bei Iwan Romanov, unserem Regisseur, dass ihm Arzneifläschchen und Medikamentenpackungen fehlten, ja, verschwunden seien, dem Iwan lediglich entgegenhielt, wer denn nun für die Requisiten zuständig sei oder, ob Bogdan, wo er nicht einmal „seine sieben Zwetschgen zusammenhalte“, vielleicht die Regie übernehmen wolle.
Dies gipfelte darin, dass es infolge des Fehlens wichtiger Requisiten zu kleinen Katastrophen kam, die nur durch die Improvisierkunst einzelner Darsteller überspielt werden konnten. So stellte bei der Generalprobe zu Molières „Le Malade Imaginaire“ der Notar auf der Bühne ungeniert fest: „Jetzt hat mir wer mein Tintenfass geklaut!“, was sein Kontrahent nur dadurch rettete, indem er einwarf: „So nehme er denn meinen Kugelschreiber!“
Schuld daran waren aber nicht die Schauspieler, sondern es war eindeutig Bogdans Versäumnis. Das Tintenfass blieb auch in der Folge verschwunden, weshalb er ein neues anschaffen musste.
Dass Bogdan selbst es habe verschwinden lassen – vielleicht um sich „wichtig zu machen“ oder seine Unentbehrlichkeit zu demonstrieren – schied aus, zu lange schon war er ein bewährter Mitarbeiter. Auch dass jemand aus dem Ensemble das Tintenfass gestohlen hätte, war ziemlich unwahrscheinlich. Was sollte er damit, wo doch heutzutage fast jeder schon einen Laptop besitzt?
Damit konnte es sich nur um „Sabotage“ handeln, wie Bogdan das nannte: da sabotiere ihn jemand, offenbar mit dem Ziel, ihn unmöglich zu machen!
Wer konnte daran Interesse haben?
Der Hausmeister des Theaters, der zu allen Räumlichkeiten des Gebäudes, auch zur „Asservatenkammer“ – wie Bogdan sein Reich nannte – Schlüssel hatte? Aber was sollte der mit abgelaufenen Medikamenten oder einer Klistierspritze? Sogar diese hatte sich in Luft aufgelöst. Da konnte nicht mehr nur mehr von einem „Lausbubenstreich“ die Rede sein, das war gezielte Sabotage!
Vorübergehend geriet auch Rainer in Verdacht, ein eifriger Statist, der wie der Requisitenmeister ein Auge auf die hübsche Nelly, die Reizendste unserer Truppe, geworfen hatte. Offensichtlich wollte er sie Bogdan, der schon einige Zeit mit wechselndem Erfolg „dran war“, ausspannen, wobei er als der Jüngere und Flottere echte Chancen zu haben schien.
Möglicherweise hatte Nelly selbst die fehlenden Requisiten verschwinden lassen, um Bogdan „einen Lektion zu erteilen“, sei es, dass sie mehr beachtet, sei es, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte.
Es konnte zudem nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass ihr Bekannter, Franz, der oft bei den Proben dabei war und im Theater ein- und ausging, gleichfalls mit dem erklärten Ziel, bei der Schönen „zu landen“, dahinter steckte, da er in Bogdan seinen Rivalen bereits offen erkannt hatte.
Die Verdachtslage änderte sich schlagartig, als die Garderobière Ully in der hinterlegten Tasche von Emma Spüli, der leiblichen Schwester Bogdans, Mullbinden und Verbandzeug vorfand, die auf der Bühne beim Probendurchlauf gefehlt hatten.
Was mochte Emma dazu veranlasst haben, ihrem Bruder „am Zeug zu flicken“?
Gut, ihr Sohn Karli war seit zwei Monaten seinem Onkel Bogdan als Assistent zugeteilt, sollte ihm zur Hand gehen und seinerseits das Requisiteurfach lernen; und er machte sich ganz zufriedenstellend.
Nur hätte Emma da wohl eher Anlass gehabt, hilfreich als destruktiv zu sein, schließlich lag es ja auch in ihrem Interesse, dass Karli eine gediegene Ausbildung erhalte. Ebenso schieden prima vista familieninterne Eifersüchteleien als Motiv aus.
Emma bestritt zudem aufs Entschiedenste, dieses Verbandzeug an sich genommen und in ihrer Tasche wegzuschaffen versucht zu haben. Sie behauptete fest und steif, sie selbst sei das Opfer eines dritten Täters geworden, vielleicht der Visagistin Carla, die ihre Tochter Beate gleichfalls gern bei Bogdan untergebracht hätte, was aber Regisseur Iwan, der Bogdans Vorliebe für junge Mädchen kannte, sofort unterbunden hatte. Er könne in seinem Ensemble keinen eigens geförderten „Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses“ brauchen – wie er es strafgesetzlich korrekt formulierte.
So blieb auch dieser offensichtliche „Diebstahl von aufführungswichtigen Requisiten“ im Dunkeln.
Denn selbst Georg, der mit Bogdan in ewigem Unfrieden lebte, weil ihm dieser bei der Zuteilung eines fixen Parkplatzes innerhalb des Theaterkomplexes vorgezogen worden war, würde doch – nur um die Feindschaft weiter zu nähren – nicht so einen lächerlichen Anschlag unternommen haben. Dennoch hatte Regisseur Iwan in Georgs Ankleidezimmer überraschend Nachschau gehalten, freilich ohne Erfolg.
Das mysteriöse Verschwinden von Requisiten, das – je näher die Premiere kam – immer mehr zunahm, blieb unaufgeklärt. Schon dachte der davon in Kenntnis gesetzte Theaterdirektor daran, die Polizei einzuschalten. Die Mehrheit der Schauspieler und des Bühnenpersonals entschieden aber dafür, dies in den eigenen Reihen zu klären, anstatt den Medien Grund dafür zu bieten, über die „ganz und gar verworfene Theaterszene“ herzuziehen.
Nur weil Bogdan angesichts der Vorkommnisse für die Premiere jede Requisite zwei-, ja manche dreifach angeschafft hatte, konnte er guten Gewissens davon ausgehen, alles werde klappen, ruhig schlafen hatte er allerdings schon die ganze letzte Woche nicht mehr können. So war er mit den Nerven am Ende.
Und da passierte es. Schon während des ersten Aktes des „Eingebildeten Kranken“:
Während sich der Hauptdarsteller noch quengelnd und leidend im Bett hin- und herwarf, war mit lautem Knall etwas aus dem besonders hohen Schnürboden mitten auf die Bühne gestürzt:
Bogdan, der Requisiteur!
Mit zerschmetterten Gliedern lag er mitten vor dem Souffleurkasten. Er hatte sein Leben ausgehaucht, und auch der Souffleuse fehlte es dazu an jedem Stichwort.
Panisch wurde der Vorhang heruntergelassen, und die Vorstellung musste abgesagt werden.

Die Schlagzeilen der Presse am nächsten Tag überstürzen sich wie: „Statt einem eingebildeten Kranken: Toter im Landestheater!“, „Ein Requisiteur fiel aus allen Wolken“, „Da führte eine fremde Hand Regie“, „Das wichtigste Requisit fiel aus: der Requisiteur selbst!“, „Alles Gute kommt von oben!“, „Es lief nicht alles am Schnürchen: Todessturz aus Theaterschnürboden“, „Wer zog da die Register?“ und „Unfall oder Mord. Toter im Theater“.
Darauf lief es hinaus!
Was hatte Bogdan währen der Aufführung am Schnürboden zu suchen? Irgendetwas oder irgendwer musste ihn dorthin geschickt oder gelockt haben. Dazu kamen offensichtliche Kampfspuren oben in den Kulissen. Bogdan war also nicht etwa ausgeglitten und von einem der Stege gerutscht, er war hinuntergestoßen worden.
Nun ging es ohne Polizei nicht mehr ab. Die Mordkommission und die Spurensicherung legten den gesamten Theaterbetrieb lahm. Auch die beiden Folgeaufführungen mussten abgesagt werden.
Die Kriminalisten befassten sich eingehend mit den schon „üblichen Verdächtigen“, die gerüchteweise im Ensemble mit dem Verschwinden der Requisiten und nun mit des Requisiteurs Tod, ja, mit seiner Ermordung in Verbindung gebracht wurden.
Emma, die Schwester Bogdans, die schon eines Requisitendiebstahls höchst verdächtig gewesen war, wenngleich ihr ein erkennbares Motiv damals wie jetzt fehlte, war im Publikum gesessen, konnte also nicht selbst Hand angelegt haben, auch wäre ihr ein Aufstieg in die luftigen Höhen des Schnürbodens ebenso wenig zuzutrauen wie die gewaltsame Auseinandersetzung dort.
Sollte sich Georg, der feindliche Mitarbeiter Bogdans, wegen des ihm vorenthaltenen Parkplatzes zu solch einer Tat hinreißen haben lassen? Höchst unwahrscheinlich! Dazu kam, dass er während des ersten Aktes in der Kantine des Theaters gesehen wurde, von wo er erst wegging, als der Sturz Bogdans schon erfolgt war.
Die Visagistin Carla war auch während der Vorstellung noch voll beschäftigt, ihr Tochter Beate bei ihr.
Franz, der Nebenbuhler Bogdans um Nellys Gunst, befand sich im Ausland.
Rainer, der mit Bogdan um Nelly gerittert hatte, verstand es, die unaufschiebbare Beschäftigung des Requisiteurs dafür auszunützen, mit Nelly zu poussieren, womit beiden alibimäßig geholfen war.
Erst als der Gerichtsmediziner aus der fest verschlossenen Hand Bogdans einen Knopf herauslöste, der – nach der Spurensicherung – an der Jacke seines Neffen Karli fehlte und den Bogdan im Kampf abgerissen haben musste, war der Täter überführt:
Zur Nachfolge als Requisiteur hatte der undankbare Neffe den Onkel auf den Schnürboden gelockt und von dort hinuntergestoßen: ein bodenloser, ein hoffnungsloser Fall

Sein „Fall“ vor Gericht hält zweifellos länger an!