„KALENDERGESCHICHTEN“-WETTBEWERB

Zu dumm! Da haut es einen um …

Im Bioladen am Pfarrplatz gibt ’s nicht nur das frischeste Gemüse, die leckersten Käsesorten und das bestgeschrotete Korn, sondern immer auch die letzten Neuigkeiten aus unserem Wohnviertel.
Heute habe ich bei meiner Naturkostquelle neben meinem Appetit wieder meine Neugierde gestillt.
Ich habe Tomaten und Gurken eingekauft, ja, Gurken, wo sich doch endgültig als sicher herausgestellt hat, dass sie keineswegs die bösen EHEC-Auslöser waren, sondern dass diese E. Coli-Bakterien bei einem Laborunfall aus einem der drei deutschen Hochsicherheitslaboratorien entwichen sein dürften, in dem noch im letzten Jahr eine klinische Studie für einen ETEC Pflaster-Impfstoff von Intercell gelaufen ist.
Aber Angelika, die hübsche und tüchtige, die hübsch-tüchtige Naturkostverkäuferin hat mir geraten, darüber entweder ganz zu schweigen oder zumindest hinzuzufügen, es gelte die „Unschuldsvermutung“. Wenn sich mit dieser Einschränkung sogar die Presse vor Verfolgung seitens der „angegriffenen Opfer“ zu schützen versteht, müsste es auch meine freie Meinungsäußerung abdecken.
Ich war allerdings nicht in den Bioladen gekommen, um meine Gurken-Dramen-Katastrophen-Entwarnung respektive respektloser: meine Gurken-Darm-Diarrhö-Einstellung publik zu machen, sondern um – am anderen Ende ansetzend – leichtverdaulichen Nachschub zu beschaffen, sowohl nahrhaften als auch verbalen.
Meist traf ich um diese Zeit die etwas betagte, aber immer noch geistig recht rege Frau Martha Huber, die sich noch ohne Gehhilfe und mit den heitersten Erzählungen aus ihrem Umfeld im Bioladen zu einem oder mehreren Tratscherln einfand (dazu sagt man heute freilich eher „Smaltalk“).
Vorgestern war sie bis 11 Uhr nicht erschienen, danach hatte ich nicht mehr länger auf sie warten können.
Als ich auch gestern vergeblich ihrer harrte, beschlich mich schon die böse Ahnung, ihr sei etwas zugestoßen, eine Ahnung, die sich heute leider bewahrheitete:
Man habe die arme Frau im Rollstuhl in die geschlossene Anstalt der hiesigen Psychiatrie eingewiesen. Angela, meiner Bioläderin, sei es nicht gelungen, im Wagner-Jauregg-Krankenhaus zu ihr vorzudringen.
O Schreck, es wird doch kein Schlaganfall – „Apoplexie“ sagte ich ganz perplex – gewesen sein! O Schreck, lass nach!
Sie sei vorgestern von der Rettung ins Unfallkrankenhaus gebracht worden: zwei Beinbrüche, zu operieren! Danach habe man sie in die Psychiatrie überstellt.
Den Grund dafür hätten die Stationsschwestern Angela unter dem Hinweis auf den Datenschutz – sie sei ja keine nahe Angehörige – verschwiegen, ja sie nicht einmal zu bloßem Sichtkontakt in Marthas Nähe gelassen.
Sie hätte eben behaupten müssen, sie sei die Enkelin.
Und wenn dann tatsächlich eine Enkelin aufgetaucht wäre und sie der Lüge überführt hätte? Was dann?
Wenn die Patientin verwirrt sei, könne die sich fälschlich als Enkelin ausgebende Bekannte ja auch ein wenig verrückt sein, oder?
Diese Alternative gefiel Angela weniger.
Also musste ich ihr versprechen, mir – unter welchem Vorwand auch immer! – Zutritt zu Marthas Krankenzimmer zu verschaffen, nicht ohne vorher dem diesthabenden Arzt ein Bulletin entlockt zu haben, auf Bioladen-Deutsch: den Arzt ausgehorcht zu haben, woran Martha leide – oder vielleicht sollte ich den Ausdruck „laboriere“ wählen, wenn man das Martha zugestoßene Übel als „Arbeit“ (labor, -oris) bezeichnen dürfe, sogenannte „Trauerarbeit“ vielleicht, ihres Bedauerns wegen, nicht weiter in den Bioladen einkaufen gehen und dort Gespräche austauschen zu können.
Angela gab mir eigens eine Birne, zwei Äpfel, Himbeeren und Zucchini mit, die ich Martha bringen solle. Wie stelle sie sich denn vor, wie Martha die letzteren zu schnabulieren gedenke?
Wenn nicht roh, dann gebacken!
Angela könne sie, die (gurkenähnlichen) Zucchini, ja „vorbehandeln“, dünsten etwa und sie mir dann mitgeben. Von Gurken selbst rate ich ab, da ja Martha offenbar von der EHEC-Entwarnung in ihrem (vielleicht schon länger umnachteten) Zustand nichts mitbekommen haben dürfte.
Ich schlug vor, mir eine eigene Bein-Aufbaunahrung mitzugeben.
Martha habe – so Angela – ohnehin sehr unter ihrer Osteoporose zu leiden gehabt. Jetzt seien die porösen und porosen Knochen wohl zerborsten. Das habe Martha zu all ihrem Unglück gerade noch gefehlt, habe sie doch bei Schlechtwetter immer über Schmerzen geklagt und sich bislang schon immer recht schlecht und recht in den Bioladen gequält!
In der heißen Sommerzeit habe sie darunter besonders gelitten.
Also machte ich mich – selbst ziemlich „genervt“ – tags darauf auf den Weg in die „Nervenheilanstalt“.
Für ein paar Himbeeren und einen Obulus für die „Kaffeekassa“ konnte ich der Stationsschwester Marthas „Anhaltegrund“ herauslocken. Nach der Operation in der Unfallklinik habe sie, nach der Ursache ihres doppelten Beinbruchs gefragt, fest und steif behauptet, ein Schifahrer habe sie „über den Haufen gefahren“, und das mitten im Sommer und mitten in der Stadt! Wer so viel Unsinn rede und darauf beharre, könne nur in die Psychiatrie eingewiesen werden.
Wie traurig war ich über den plötzlichen geistigen Verfall meiner Bioladen-Freundin. Wer weiß, ob sie Angelas Mitbringsel überhaupt noch wahrnehmen und zu schätzen wissen würde.
Im Gegenteil, sie war ganz erfreut darüber und beklagte sich nur, dass sie wegen eines so leichtsinnigen Schiläufers länger nicht in den Bioladen würde gehen können.
Während ich bei Martha war, betrat ein mir unbekannter junger Mann mit einem Blumenstrauß das Zimmer:
„Ich bin der unglückliche Schifahrer, der Frau Huber über den Haufen gefahren hat!“ „Wie das?“, wunderte ich mich.
„Ich sollte mit Freunden Gletscher-Schilaufen. Dazu holte ich meine Schier vom Dachboden, schnallte sie mir an und lief sozusagen „Probe“ – die Stiegen hinunter, als Frau Huber plötzlich bei ihrer Wohnungstür herauskam. Ein so ein Pech!“
„Welch Glück, dass Sie gekommen sind. Nun muss man die Verrückte ernst nehmen!“ warf ich ein.
Tags darauf lachte ich mit Martha im Bioladen schon wieder darüber …