ENTLANG DEM MORDUFER

Wir vierzehn Schreibkandidaten und –kandidatinnen hatten uns im Schreibseminar zur Fortbildung getroffen, ohne zu ahnen, dass wir zu Mordverdachtskandidaten –und kandidatinnen werden würden. Schließlich war unsere Aufgabe nach einer Woche nicht, jemanden umzubringen, sondern einen Text zum Thema: „Ein denkwürdiger Spaziergang durch Potsdam“ zu verfassen. Die besten drei würden mit ansehnlichen Preisen (7000,--; 5000,-- und 3000,--€) prämiert werden.

Schon bei unseren der sich am ehesten Vorübungen kristallisierte sich heraus, dass Theodor Toth der Fähigste unter uns war, durchsetzen sollte. Nur dass er seinen Namen letztlich so umsetzen würde, erwartete niemand.
In der möglichen Spitzengruppe lagen noch Beatrix Berner, Dorothea Denk, Fritz Flink, Jakob Jansen und Lutz Lustig. Meine Wenigkeit, Martina Mascher, Otto Obrecht, Quirin Quappe und Sabine Seger versprachen guten Durchschnitt. Während Ulrike Ührlein, Veronika Veilchen und Walter Wenig nicht nur im Alphabet, sondern auch in ihrer Schreibleistung abgeschlagen zurücklagen.

Für die Vorbereitung unserer Wettbewerbsarbeiten blieben uns zwei Tage (offizielle Schreibzeit von 9 bis 12 und von 14 bis 18 Uhr, davor, dazwischen und danach fand sich, wer wollte, im Restaurant zum gemeinsamen Essen ein). Am dritten Tag, einem Freitag, war Abgabeschluss. Wer mit seinem Text früher fertig war, durfte ab Donnerstagmorgen – wenn er die Konkurrenz nicht scheute – seine Arbeit in das Intranet des Schreibseminars stellen, in das jeder von uns durch Eingabe seines Vornamens und seines Kennwortes hinein- , also auch dort schon gespeicherte Texte lesen konnte.

Spätestens am Freitag punkt 12 Uhr mussten alle vierzehn -Kurzgeschichten im Intranet aufscheinen (jeweils höchstens 11Seiten zu je 30 Zeilen à 60 Anschläge). Ab 14 Uhr waren die Texte von jeder Autorin, von jedem Autor – das war Bedingung – persönlich vorzutragen. Vier Stunden später werde die Jury die drei Preisträger bekanntgeben.

Also gingen wir an die Laptops und an die Arbeit.
Ich hatte mir einen Stadtplan von Potsdam besorgt und begann meinen Spaziergang (nicht sehr einfallsreich, fürchte ich) bei der Orangerie, folgte der Maulbeerallee, ging am Sizilianischen Garten vorbei und gelangte bis zur Neuen Kammer. Hier endete der Weg mit Jammer: Ich wurde (freilich nur in meinem Text: „Rettungslos – verfahren“) in einen Verkehrsunfall verwickelt und erlebte Potsdam im Rettungsauto, das mich an der historischen Bockwindmühle vorbei von einem Krankenhaus ins andere brachte, weil keines Aufnahme hatte, gerade so, als wollte mich die junge, hübsche Rettungswagenfahrerin dadurch ins Bockshorn jagen. Ich ließ mich zwar einschüchtern, jedoch (in der Short Story) vorläufig noch offen, ob ich meinen „Spaziergang“ durch Potsdam überlebte und er mir daher „würdig“ genug wäre, an ihn fortan zu „denken“.

Ich hatte die (mir lang fehlende) Pointe noch kaum „angedacht“ (wie papieren ich nie zu schreiben gewagt hätte), da trat Theodor schon am Donnerstagvormittag hervor und verließ den Schreibsaal. Neugierig meldete ich mich im Intranet an, um seinen Text gehörig zu bewundern (obwohl ich in der mir noch zur Verfügung stehenden Zeit davon gewiss nichts mehr zu lernen erhoffte). Seine treffende Wortwahl, seine lebendige Schilderung, sein geschliffener Stil und seine ausgefallene Idee, als Affe, der einem Flohzirkus als dessen Direktor entlaufen war, durch Potsdam zu flüchten (mit dem Titel: „Potsdamer Zoo“), faszinierten mich derart, dass ich meine Arbeit nicht mehr für denkwürdig, sondern eher für sehr fragwürdig hielt.

Mir fiel zu Theodor Toths Lage gegenüber meiner oder etwa der von Lutz Lustig nur das Zitat ein, das Goethe in Faust I im Vorspiel auf dem Theater eben die Lustige Person sagen lässt:
„Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen,
Ein Werdender wird immer dankbar sein.“
Ach, nein!

Als ich aber die Gesichter meiner Konkurrentinnen und meiner Mitbewerber beobachtete, die sich ähnlich umsichtig gleich mir eingeloggt hatten, und sah, wie perplex sie waren (die Kinnladen fielen ihnen „buchstäblich“ herunter – ich weiß schon, dass ich mich nicht gerade gewählt ausdrücke, aber mehr als einen guten Platz im Mittelfeld erhoffe ich mir ja gar nicht!), als ich ihre ratlos-dummen Fratzen sah, fühlte ich mich nicht mehr als der Einfältigste unter ihnen und beschloss, mich durch nichts und niemanden von meiner Unfallversion abbringen zu lassen. Die Arbeiten der anderen wollte ich mir überhaupt nicht mehr ansehen, ich würde sie früh genug zu Gehör bekommen!

Beim Mittagessen trafen wir alle aufeinander. Auch Theodor, der Champion, war gekommen und ließ sich von der Mehrzahl seiner  Bewunderer bereits als Sieger feiern, auf die Schultern klopfen und auf den Schild erheben.
Die lebhaften Schilderungen der „denkwürdigen Spaziergänge“ der anderen hörte ich mir erst gar nicht an, um die Versuche meiner Rettung nicht noch mehr zu gefährden, um mich in Potsdam nicht noch weiter zu verrennen.
Unmittelbar nach der Mittagspause gab Lutz seinen Text ein und verließ, getreu seinem Namen, nämlich lustig, das Seminar. Sofort stürzten sich alle Verbliebenen – Krethi und Plethi, Hinz und Kunz, außer Fritz, Martina, Sabine, Ulrike und ich – auf seinen Beitrag: „Mord im Schreibwerk“. Ich forschte in ihren Gesichtern, welchen Eindruck der Text auf sie gemacht haben mochte. Die angehenden Autorinnen erschienen mir aufgeregt, was mich jedoch nicht weiter beunruhigte.

Eher aus der Ruhe brachte mich die Tatsche, dass noch an diesem Donnerstagnachmittag alle bis auf vier Teilnehmer neben mir ihre Texte ins Intranet stellten und dann verschwanden, der Reihenfolge nach (die ich mir mit den Eselsbrücken = EB der Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen merkte) waren das:
Sabine, Otto, Dorothea, Martina (EB: SODoM), als siebte Beatrix, als achte Ulrike und als neunter Fritz Flink, der gar nicht so schnell war, wie sein Name vorspiegelte (EB: BUFF – ja, bei Eselsbrücken kamen mir oft die perversesten Assoziationen!).

Noch unruhiger wurde ich, als ich beim Abendessen den eifrigen Gesprächen meiner Kolleginnen und Kollegen lauschte, die alle von ihren Elaboraten so sehr überzeugt waren, dass sie schon glaubten, zu den Preisträgern zu gehören.

Nur Theodor, Lutz, Martina und Sabine fehlten: Entweder war ihnen durch die Überforderung der Appetit vergangen, oder das Menü sagte ihnen nicht zu, oder sie hatten anderweitige Verpflichtungen.
Auch als sie am Freitag beim Frühstück nicht erschienen, ebenso Otto, machte ich mir darüber weiter keine Gedanken. Ich war schon darauf konzentriert, meinen Text abzuschließen, und bangte bereits im Rettungsauto am Weg ins dritte Spital um mein Leben.

Wieder an meinem Laptop, wurde ich auch im letzten Krankenhaus Potsdams abgewiesen. Mein Zustand hatte sich jedoch infolge der Spazierfahrt durch die Stadt – wegen der Milchglasscheiben des Rettungswagens keine echte Sigthseeingtour –, trotz beschränktem Ausblick also, dennoch so gebessert, dass ich – und nun wich ich von meinem Erstkonzept ab und gab mich einem Happy End hin – keiner Spitalspflege mehr bedurfte, zumal mich die junge, hübsche Rettungswagenlenkerin (aus Verzweiflung oder aus Berechnung? Hatte sie nur vorgegeben, überall abgewiesen worden zu sein?) zu sich nach Hause mitnahm und „erstversorgte“.

Vor mir hatten schon Jakob und Veronika abgegeben, nach mir schafften es kurz vor zwölf auch Quirin und Walter.
Nach dem von Nervosität und hohen Erwartungen beeinträchtigten Mittagessen, an dem alle teilnahmen außer Theodor, fanden wir uns im ruhigen Innenhof des „Luisenformus“ zur „Endlesung“ ein. Auch da fehlte Theodor. Da er aber dem Alphabet nach erst der Elfte war, konnte er ja in den nächsten zwei Stunden noch kommen.
Die Lesungen schritten zügig voran.

Augenfällig Gefallen fanden bei der Jury die Texte von Beatrix (mit dem Titel: „Der Kindfund oder das Findelkind“: Eine junge Frau, die bisher vergeblich versucht hatte, Mutter zu werden, findet bei ihrem denkwürdigen Spaziergang durch Potsdam ein weggelegtes Kind); von Dorothea („Der Spaziergang hängt mir heute noch nach“, ein autobiographischer Text: Die Autorin lernt auf einen Spaziergang durch Potsdam ihren späteren Mann kennen) und von Lutz („Mord im Schreibwerk“: Der Mitautor in diesem Schreibwettbewerb, Franz Langleben, lädt – weil sie ihm gefällt – seine Konkurrentin Melanie Glücklos zu einem Spaziergang durch Potsdam ein. Sie, die in Franz den Favoriten erblickt und deshalb einen Preis zu verfehlen fürchtet, sinnt danach, ihn auszuschalten. Indes sie Händchen halten und von der Hermann-Elflein-Straße zum Brandenburger Tor, dort nach links in die Brandenburgerstraße, bis zur Friedrich-Ebert-Straße, rechts, über den Platz der Einheit, dann links, Am Kanal, bis in die Berliner Straße gehen, denkt sie, als sie nach rechts in die Planstraße einbiegen, hinter dem HOT, dem Hans Otto-Theater, angesichts der Tiefen See schon darüber nach, wie sie sich Franzens entledigen könnte. Noch lächelt sie ihn verführerisch an. Entlang dem Nordufer der Havel – wird Nordufer zum Mordufer? – gelangen sie zum Glienicker Horn und zur Babelsberger Enge. Hier erscheint ihr der Fluss zu wenig breit, als dass Franz – stieße sie ihn hinein – nicht gleich wieder an Land käme. Sie queren die Berliner Vorstadt, promenieren am Teufelsberg vorbei, der ihren satanischen Plan reifen lässt, weiter am Haveluferweg bis zum Krughorn. Keine anderen Spaziergänger weit und breit! Sie bittet Franz, sich knapp ans Ufer, auf die Kaimauer, zu stellen und eine jener Stangen in ihre Richtung zu halten, mit deren Hilfe die Boote abgestoßen werden, damit sie ein Erinnerungsfoto machen könne. Sie fordert ihn auf, noch ein, zwei Schritte zurückzugehen, damit er gut im Bild sei. Und während sie abdrückt, stößt sie überraschend mit der Stange zu, sodass Franz „aus dem Rahmen fällt“ und in den Strom stürzt. Nachdem sie sich überzeugt hat, dass er hilflos absäuft, tritt sie seelenruhig den Rückweg an: Der schärfste Konkurrent ist beseitig. Ihrem Sieg im Schreibwettbewerb steht nichts mehr im Wege).

Auch mein Text – Sie kennen ihn ja – kam bei den Juroren gut an. Als die Reihe an Theodor kam, war er noch immer nicht eingetroffen. Er erschien bis zum Schluss der Lesung nicht. Nach weiterem Zuwarten und vergeblicher Nachschau in seinem Zimmer wurde er disqualifiziert. Sein Text schied aus. Der schärfste Konkurrent war beseitigt.

Die Jury sprach Lutz Lustig trotz seinem traurigen Mord den Sieg zu. Dorothea reihte sie als Zweite, Beatrix als Dritte. An die vierte Stelle setzte sie – wer hätte das erwartet? – meinen Text.
Die geplante Feier danach war durch das Fehlen Theodors getrübt.

Am Samstagmorgen wurde seine Leiche bei Moorlake angespült. Alles sah anfangs wie ein Unfall aus. Die Obduktion ergab hingegen, dass Theodor, bei einem Sturz (von der Kaimauer?) ins Wasser mit dem Kopf auf einem Stein aufschlagend, bewusstlos geworden und ertrunken sei. Auffällig war ein großflächiges Hämatom in der Magengegend, das durch Einwirken mit einem stumpfen Werkzeug entstanden und nicht bloß Folge des Abtreibens in der Havel sei.

Die Befragung der Schreibkursteilnehmer machte die Kriminalpolizei bald sicher, dass hier ein Täter nach dem Muster in Lutz Lustigs Kurzgeschichte vorgegangen war. Da Lutz nicht so unintelligent wäre, ein schriftliches Vorausgeständnis abzulegen, kam nur ein Kandidat oder eine Kandidatin in Frage, der oder die den „Mord im Schreibwerk“ im Intranet gelesen hatte. Leicht nachvollziehbar, da gespeichert war, wer sich wann elektronischen Zugang verschafft hatte. Damit schieden Fritz, Martina, Sabine, Ulrike und ich aus.

Da Theodor Toths Tod – folgte man dem Gerichtsmediziner – schon am Donnerstagnachmittag eingetreten war, hatten neben mir auch Jakob, Veronika, Quirin und Walter, die wir zu dieser Zeit noch an unseren Texten arbeiteten, ein stichhaltiges Alibi.

Damit stand das Fehlen von Lutz, Martina und Sabine Donnerstag beim Abendessen und beim Frühstück tags darauf, das zuerst Verdacht erweckt hatte, in keinem Zusammenhang mit dem Mord, indes die Abwesenheit Theodors dabei dessen Zwangsfolge war.

Der Kreis der Verdächtigen war auf Otto, der als Vierter abgegeben und beim Frühstück am Freitag gefehlt hatte, auf Dorothea, die als Fünfte fertig gewesen war und den zweiten Preis errungen hatte, und auf Beatrix, die als Siebte den Schreibsaal verlassen hatte und in der Wertung Dritte geworden war, zusammengeschmolzen, wobei die beiden Autorinnen in ihrem Gewinnen auch ein Tatmotiv hätten.

Eine Durchsuchung ihrer Zimmer schaffte den Fotoapparat zutage, mit dem Theodor samt Schiffstange kurz vor seinem Absturz noch aufgenommen worden war. Der schärfste Konkurrent war beseitigt!
Warum hatte sich Beatrix Berner auch in allem streng an Lutz Lustigs Regieanweisungen gehalten? Dadurch hatte sich Beatrix selbst ausgetrickst und anstatt „beata“ (lateinisch für „glücklich“) nur sehr unglücklich gemacht! Sie verschwand aus der Wettbewerbswertung – und auf Jahre in der Strafvollzugsanstalt.
Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, als man mich auf den dritten Rang aufrücken ließ: 3000,-- € Preisgeld!

Gar so rettungslos verfahren war meine Kurzgeschichte denn doch nicht!

H. H. HADWIGER