T-RAUMERFÜLLT

 

 

Ließe sich meine Kindheit verorten,

dann dort:

Hier, im Weinviertel,

am Rande zum Marchfeld,

wuchs ich auf,

hier ging ich zur Schule,

hierher kam ich immer wieder,

immer wieder seltener

und verhaltener zurück,

rückhaltlos.

 

Zwar in Wien in der Semmelweisklinik geboren,

meiner Mutter das Kindbettfieber ersparend,

kam ich doch zu den Großeltern aufs Land.

Oberlehrer der Großvater,

der noch den Rohrstock einsetzte;

Arbeitslehrerin die Großmutter,

ausgleichende Güte.

 

Schabernack mit der jüngeren Schwester,

bis sie auf eine Haue fiel und sich verletzte,

was die Eltern entsetzte.

Der kleine „große Bruder“ für alles verantwortlich.

Spiele mit den Nachbarkindern,

Spiele und Streiche mit Anni und Rudi;

Strafen, unvergessene, ausgestanden,

für Unbotmäßigkeiten, nicht mehr erinnerliche:

Zündeln? Doktorspiele? Balgereien?

Auf Holzscheitern knien,

in den „Goaßstoi gschpeat“.

Mit freudegezügeltem Übermut

Kasperltheater gespielt,

für die Dorfkinder,

die in der Pause

das erste englische WC benützen dürfen,

um fünfzig Groschen.

 

In die Volkschullehrerin verliebt,

beflügelt zum besten Schüler,

peinlich als Beispiel zitiert.

Trotzdem Lausbub geblieben,

auf Bohrtürme gestiegen,

meinen Mut beweisend,

alle vor den Kopf stoßend,

im Wissen,

dass man um mich bangt

oder betet.

Brave Katholikin die Großmutter,

gottgläubig die Eltern,

ich, ungetauft bis zur Schule,

von den Mitschülern verspottet,

als „Heide“,

drum Protestant.

Die Großmutter zur Kirche begleitet:

kein Weihwassertunken,

kein Kreuzzeichen,

kein Niederknien,

was verwundert.

 

Im Kirchengassl,

angesichts der Kirchturmuhr,

nach der Zeit gefragt,

dem Nicht-Kurzsichtigen

widerwillig geantwortet,

weil nicht als Analphabeten erkannt,

in seiner Herkunft begründet.

Jeder habe sei „eigenes Talent“,

warf er, sich entschuldigend, ein.

Verständnis entwickelt

für das Unvollkommene,

Schwache rundum.

Nicht mitgemacht

beim Aufspießen der Maikäfer

und „Fliegenlassen“,

aber sie morgens von Bäumen geschüttelt,

für einen Schilling das Kilo.

Regenwürmer ausgegraben, Engerlinge,

die einen behütet, die andern verkauft.

Katzen von Vogelnestern verscheucht,

das Gebelle von Hunden imitierend.

 

Wochenendein und wochendaus

mit den Eltern und deren Freunden

ins nahe „Waldl“ gewandert,

Blumen gepflückt und Kräuter bestimmt,

Marienkäfer auf Astrids Oberschenkel gesetzt,

noch frei von allen Hintergedanken.

 

Zum Sportplatz geschlichen,

den Großen beim Kicken zugeschaut.

Abends Milch holen müssen,

ja keinen Tropfen verschütten!

Zur Pferdeschwemme gelaufen,

auch als die Pferde schon ausblieben,

dann selbst dort gegrundelt.

Bei der Weinlese geholfen,

die Kelter hochgeklettert,

in die Maische gestiegen.

Auch Kraut getreten, bloßfüßig.

 

Den Großvater,

zuletzt schwerhörig und ungerecht,

friedlich am Totenbett, bestaunt,

mit Respekt anstatt Angst;

am Friedhof öfter besucht.

Seine fünfzig Bienenvölker geerbt.

Mit der Großmutter Imker gespielt,

den Drohnen getrotzt,

die Weiselzellen erkannt und ausgestochen

oder den Schwärmen gefolgt bis in den Wald,

auf Bäume geklettert,

die Bienen „gerettet“

und den Honig verdient,

durch nimmermüdes Schleudern.

 

Alles das sind der Kindheit Lebensräume:

verbrämte Wirklichkeiten,

Spielwiesen der Träume.

 

Wir waren im Unterort zuhause

wie im Oberort,

kannten jeden Schlupfwinkel,

jedes Versteck, jede Nische.

Die Scheunen waren vor uns unsicher,

die Strohtristen von unseren Gängen durchzogen.

Selbst auf den Kirchturm hatten wir uns gewagt,

sobald wir erkannten,

wie harmlos Fledermäuse sind.

„Räuber und Gendarm“ hatten wir gespielt,

eingeschaut und abgezählt

und geschummelt, ehe wir losliefen

und nach den Verlorenen riefen.

Getempelhüpft sind wir,

den Mädchen dabei nicht gewachsen,

„Himmel und Hölle“

mussten wir erleben,

weil es uns immer zu gut ging.

Aber wir hatten auch Pflichten

und Aufgaben zu verrichten,

die es heute kaum mehr gibt:

Ribiselbrocken,

in der Hitze hocken

und Heferl für Heferl einbringen;

Nüsse passen,

sie mit Stangen von den Bäumen

prasseln lassen,

Hasenfutter abmähen,

Hühnereier suchen

und hinter den Hennen,

die die Großmutter köpfte,

weil sie kopflos weiterflogen,

durch den Hof nachrennen.

Wenn eine Sau gestochen wurde,

das Blut einfangen

und zur Blunzen beitragen.

Immer gehorchen, nie fragen!

 

Dann hat man mich hinausgeschickt,

in die strenge, biedere Welt,

maturieren und studieren lassen.

 

Als ich wiederkam,

war ich schon WER!

Aber die Einheimischen

fragten wie bisher gewohnt:

„Wem g’herst denn?“

und taten dann ganz überrascht,

dass sie einen nicht gleich erkannt hatten.

Sie hätten den Großvater noch in der Schule gehabt,

die Großmutter sei die Liebenswürdigste gewesen.

Dann fiel ihnen ein,

meinen Namen in der Zeitung gelesen,

über mich im Fernsehen gehört zu haben:

So einer sei ich also geworden!

 

Alle Achtung!

Und ich spüre ihre Vorbehalte …

 

Worauf der Vater Wert gelegt hatte:

Zu allen Allerheiligen kam ich ans Grab.

 

Der Ort hatte sich verändert:

Ein Einkaufsmarkt hatte den Greißler verdrängt.

Dort, wo ich noch gestürzt war,

mit dem Waffenrad, dem zu schweren –

Narben, die ich heute noch stolz herzeige –,

blinkt heute eine Ampel,

ungeniert.

Der Markt hat sich urbanisiert.

Auch eine Pizzeria gibt es,

von Türken betrieben.

Wenig ist geblieben

von dem, was war.

Das mach ich mir klar,

wenn ich den Ort,

schneller als je zuvor,

durchstreife.

 

Ich war ja die letzten Jahre

nur manchmal an einer Bahre

hier, wo der Großeltern Haus

aus 1907 dahindämmert:

bei Begräbnissen,

die uns bewusst machen,

wen wir vermissen,

und Leichenschmäusen,

sogenannten „Zehrungen“,

die an uns – Gottlob! – nicht zerren,

sondern uns bei Gulasch und Schweinsbraten

so gesprächig machen,

dass wir uns der Verstorbenen

unverdorben erinnern,

in unsere einstigen,

gemeinsamen Lebensräume

für geraume Zeit zurückfindend.

 

Sosehr sich dieser Ort

für mich erfüllt hat,

so wenig möchte ich hier begraben sein,

auch wenn die Familiengruft –

ruft.