Es gibt eine Zeit der Sehnsucht, wo ihr Gegenstand noch keinen Namen trägt:

 

UNERKLÄRLICHE LIEBESERKLÄRUNGEN

 

Am Ortsanfang von St. Gilgen war der Literat nach rechts, in Richtung Salzburg abgebogen, hatte den Zufahrtsweg zum einsamen Gehöft jener Heike links liegen lassen, mit der ihn seine Jugendfreundin Marie gerne verkuppelt hätte und von dessen Kuppe man einen prächtigen, einen äußerst prächtigen, ja, wenn nicht überhaupt den prächtigsten Blick auf den prächtigen Wolfgangsee genoss.

Und während er in sich hineinlächelte, wurde in ihm die Erinnerung an jenen Abend wach, da er hierher unterwegs gewesen war, voller Erwartung, bereit, sich vorbehaltlos in all das zu fügen, was sich für ihn ereignen werde, aber damit, dass nichts dergleichen geschehe, ebenso einverstanden. Offen für alle Überraschungen, aber doch nicht im Geringsten davon überrascht.

In dieser bewussten Aufgeschlossenheit, in dieser grenzenlos-entschlossenen Aufgeschlossenheit gegenüber allem Beschlossenen, für ihn von anderen Beschlossenem, war er damals hier eingetroffen.

Und nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte sich der Literat anmerken lassen, dass er sich Heike – nach den Erzählungen ihrer gemeinsamen Jugendfreundin – anders, schlanker und jünger, vorgestellt hatte.

Wie konnte er auch nur annehmen, einer Jugendlicheren zu begegnen, wohingegen er doch wusste, dass sie gleich alt war wie ihre Jugendfreundin Marie?

Marie – sie war damals, als sie einander kennenlernten, vielleicht 16 oder 18 gewesen, er, der Damals-noch-nicht-Literat, einige Jahre älter. Sie waren ein innig verliebtes Paar gewesen, Marie und der damals noch junge Dichter.

Er sieht sich mit ihr noch immer überallhin Hand in Hand gehen. Sie hatten einander geherzt, gekost und geküsst.

Es war keineswegs Unwissenheit, Prüderie oder Naivität gewesen, dass er sie nicht weiter angerührt, dass sie ihn nicht weiter verführt hatte, dass sie beide „unschuldig” geblieben waren, weil er ihr nicht „die Unschuld geraubt“, sie sich ihm nicht „vollständig hingegeben“ hatte.

So war sie all die Jahre aus sicherer Distanz stets seine Jugendfreundin geblieben. Weshalb sie ihn aus eigener, guter Erfahrung ihrer Freundin Heike weiterempfohlen hatte.

Marie hatte sich noch gewünscht, er, der – in ihren Augen seit seinen ersten Liebesgedichten für sie – illustre Poet, würde zu ihrem und Heikes 50. Geburtstag eine Eloge halten, eine Ode auf ihrer beider ewige Jugend!

Heike konnte daher gar nicht so mädchenhaft sein, wie ihre Stimme am Telefon geklungen, wonach er sich ihr Äußeres ausgemalt hatte: ein Aquarell, dessen frische Farben nun zwar ein wenig zerrannen, doch unter dem milden Schein unzähliger Kerzen – die Heike eigens zu seiner Ankunft überall im Hause angezündet hatte, als hätten sie dort immer schon gebrannt – nichts von ihrem ursprünglichen Glanz eingebüßt zu haben schienen (wie Heike von ihrer inneren Strahlkraft, ohne jedweden aufdringlichen Heiligenschein!). Doch diesem nicht auszuschließenden Trugbild hatte der Literat nicht erliegen wollen.

So hatte auch er sich schon während seiner Jugendliebe zu Marie immer standhaft geweigert, die Wohnung ihrer Großmutter in Wien-Margarethen zu betreten.

Oder war es überhaupt so gewesen, dass er damals sehr wohl mit Marie in die Wohnung ihrer Großmutter mitgegangen wäre, dass es vielmehr an Marie selbst gelegen war, ihn nie mitzunehmen, ihn, sich, sie beide nie einer solch ungeahnten, bis dahin unbekannten Gefahr auszusetzen, die sich vielleicht sogar in Neugierde, Gefallen, Freude oder in sich unversehens ihrer Kontrolle entziehende Versuchung ausgewachsen hätte?

Manchmal schien – dachte er einige Jahre zurück – des Literaten kritisches Bewusstsein auszusetzen: eine Verdrängung, damit daran bis dorthin, wo die Erinnerung wieder verklärt einzusetzen begann, nichts auszusetzen wäre!

Wir Menschen neigen nämlich dazu, von einem Ereignis, ob es uns nützt oder schadet, lediglich das Positive im Gedächtnis, im Herzen, in Erinnerung zu bewahren, das Negative aber – gottlob!, denn wie sonst sollten wir all die Unannehmlichkeiten, Belastungen, Widerwärtigkeiten und Wirrnisse des Daseins verkraften? – zu verdrängen, sodass wir Erlebtes abgerundet, beschönigend und verklärt betrachten, selbst auf die Gefahr hin, daraus keinerlei Lehre gezogen zu haben.

Schließlich hatten das Mädchen Marie und ihr junger Dichterfreund in den Tagen ihrer teils unterdrückten, teils verdeckten Leidenschaft in herzlicher Hingabe mehr in ihren Begegnungen an Kultstätten oder in ihren Liebesbriefen gewohnt, mehr in Traumverstecken als in nüchternen Gebäuden!

 

Marie hatte ihrer Tochter Hanna des Literaten seinerzeitige Liebesbriefe freimütig vorgelesen, nur des gewählt-erlesenen Stiles wegen, da sie Germanistik studierte.

Die verklärte Mutter im Lehnstuhl, ein Bündel Liebesbriefe im Schoß, davor am Teppich kniend die aufmerksam-angespannte Tochter: ein Stillleben, das den literarischen Liebhaber, als er davon im Nachhinein erfuhr, mehr rührte, als verlegen stimmte, war es doch Schnee von gestern, wenn auch nie ganz dahingeschmolzen – ebenso wenig Marie vor ihm!

Über den grünen Klee hatte Marie des Literaten seinerzeitige Jugendliebesgedichte an sie gelobt! Ihrer Tochter gegenüber, gegenüber ihrer Schwester und deren Tochter, ihrer Nichte Zora, gegenüber.

Hatte der Literat deshalb geglaubt, Zora, die er ein einziges Mal bei Marie gesehen und mit ihrer Kusine Hanna über ihre bevorstehende Trennung von ihrem Mann reden gehört hatte, Proben seiner Kunst schicken zu müssen? Gedichte an die Nichte, die traurige, weder schaurige noch sie erschaudernde, eher zaudernde, ganz und gar schickliche!

Jedenfalls schickte er sie ihr zum Trost; nicht, dass sie sich selbst, nein, nur ihren Kummer vergäße!

Oder geschah es für ihn selbst, den Dichter, zur Anregung, zur Erbauung, zu seiner Bestätigung; zur Düngung des heranwachsenden Glücksklees?

 

Wie unvorsichtig! Ja geradezu kurzsichtig! Beinahe wäre es dieser Gedichte an die Nichte wegen zu einer echten Verstimmung Maries gekommen, weil der Literat, der alte Narr – in ihren verklärten Augen, in ihren es sich so erklärenden Gedanken jedenfalls –, so uneinsichtig-töricht, so unsinnig-tollkühn gewesen sein mochte anzunehmen, ihm gelänge noch, eine anmutige Dreißigjährige mit bloßen Worten zu beschwören, zu betören, ihr zu gehören!

Wie sonst wäre aus einem Rilke-Plagiat ein fünfzehnsonettiger Zyklus erwachsen?

Und gerade jetzt, als sein automatisches Autolenken abgelenkt war vom Gedankenflug zu Heikes zauberhaft gelegenem Gehöft, fielen ihm – als hätte er sie gestern erst verfasst – die vielen Verse wieder ein, die er, vernarrt und sich selbst zum Narren machend, Zora tatsächlich geschickt hatte.

Seine beinahe brechende Stimme rezitierte noch ungebrochen jene erste Probe seiner Kunst für Zora, als ob er sie eben erst über Anstiftung der Tante für die Nichte, die er kaum kannte, dichte:

 

1. SONETT

 

Als ob ich ‘s nicht versprochen hätt!
Doch musste sich ‘s in mir erst setzen,
um das Versproch’ne abzuschätzen.
Mach nur den „Tantenleumund” wett.

Auch ohne sie käm ein Sonett –
vielleicht, den Mann dir zu ersetzen,
vielleicht, dein dunkles Aug zu netzen –,
dass ich von alldem etwas rett.

Die Verse könnten letzte sein.
Wenn sie – wie immer auch – dich störten,
bliebst unbesungen du, allein.

Die dich begeisterten, empörten,
die Themen, bitte, wirf nur ein!
Dann folgen mehr der unerhörten.

 

 

So hatte alles begonnen, getarnt mit dem Mäntelchen des Dichters, von dem Tante Marie so harmlos geschwärmt hatte, unter dem Vorwand, eine Probe seines Könnens abzugeben, indes er schon unverhohlen mit der Hoffnung spielte, diese Verse wären nicht die letzten. Bewegten sie nur Fragen oder Gedanken, die sie gerne mit ihm erörtert hätte!

Wenn sie mehr von ihm hören wolle, wollte auch er nicht unerhört bleiben.

Aber war dieses Ansinnen nicht an sich schon unerhört genug?

Sie blieb die Antwort schuldig. Weder riet sie von weiteren Gedichten ab, noch lobte sie das erste, um ihn aufzumuntern, damit fortzufahren.

Ach, hätte sie sich nur sofort ausdrücklich dagegen verwehrt; sich und ihm vieles ersparend! Ganz im Gegenteil machte sie ihm schon allein dadurch, dass sie „nichts machte“, Hoffnung und er sich die Mühe weiterer Verse an sie, die er jetzt vor sich her rezitierte:

 

 

2. SONETT

 

Nur eines hatte ich versprochen
und offen lassen dir, wie viel,
zu welchen Themen dir ein Ziel.
Seither vergingen schon zwei Wochen.

Ich komme nicht zu Kreuz gekrochen
und seh darin zunächst ein Spiel,
das nur, solang es dir gefiel,
mir Freude böte, ungebrochen.

Doch geht es letztlich nicht um mich –
da ich ja weiß, was sich gebührt –,
geht ‘s nur nicht gegen deinen Strich!

Zwar wird die Glut von mir geschürt,
doch Flammen nur umzüngeln dich
wie die, die gern die Wärme spürt.

 

 

Danach hatte er sie angerufen, weder Widerspruch noch Aufmunterung erwartend, doch irgendein Echo wenigstens! Vergeblich. Obwohl es ausblieb, ihm war ’s, war sie genauso lieb! Sodass er gleich danach ein drittes schrieb, obwohl er ihr doch nur ein Sonett versprochen hatte, eigens versprochen hatte, nur weiter vorzusprechen, wenn sie ein eigenes Thema vorschlüge, eine Frage aufwürfe, ein gemeinsam reizendes Ziel ins Auge fasste!

Zwei Wochen des Schweigens hatten ihn überfordert.

Nichtsdestoweniger schlich er sich in der Verkleidung des Spaßmachers herein und an sie heran, als Kasperl oder Hanswurst, als Pierrot oder Harlekin, als Pulcinella gar oder als Skaramuz (als sich in die Brust werfender Freier, der wie ein prahlerischer Soldat um sie stritte), ohne dass sie im entferntesten Lust gezeigt hätte, zu seiner Kolumbine oder Smeraldina zu werden. Obwohl sie von jeder Art Heiterkeit weit weg gewesen zu sein schien, schlich er sich in dieser lächerlichen Tarnung an sie an, unter dem Vorwand, ihr Vergnügen bereiten zu wollen.

Gleichsam um sich auf das augenblicklich Wesentliche zu konzentrieren, übersprang er im Geiste alle Sonette bis zum achten, mit dem er damals an das Märchen: „Der kleine Prinz” angeknüpft hatte. Er wiederholte leise für sich:

 

8. SONETT

 

Das Wesentliche liegt nicht immer klar
und manches mancherorts verborgen.
Oft dämmern erst nach Jahren Morgen
und wird das Unversproch’ne plötzlich wahr.

Das Wahre ist den Augen unsichtbar,
verlangt nur, ihm ein Herz zu borgen.
Meist macht man sich drum keine Sorgen,
als wär es viel zu wertvoll, viel zu rar.

Als gäb ’s der Traum mir ein, der tiefe Schlaf,
was – aufgeklärt – der kleine Prinz gesagt
von seiner Liebe Löcher-Schachtel-Schaf.

Hab ich bei dir mich so weit vorgewagt,
um schon Erkenntnisse zu teilen, brav,
dass mein Planet in deinem Himmel tagt?

 

 

Hatte der Literat wirklich gehofft, für Zora den Himmel herunterzuholen auf Erden und der Ihre zu werden? Gerechter Himmel! Das möge der Himmel abhüten, verhüten, der Himmel möge ihn behüten, er sich – um Himmels willen! – vor solchen Grillen hüten!

Himmelherrgott noch einmal! Musste er Zora erst in den Himmel heben, um selbst im siebenten Himmel zu schweben?

Du lieber Himmel! Hätte er seiner angehimmelten Zora nicht das Blaue vom Himmel heruntererzählt, heruntererdichtet, heruntererlogen! Hätte er ihr nicht vorgemacht, vorgeschwärmt, vorgegaukelt, dass ihr der Himmel voller Geigen hinge, hinge er nun nicht zwischen Himmel und Erde, hinge er nun nicht in der Luft! Hätte er bei ihr nicht den Eindruck erweckt, er wollte ihr den Himmel zu Füßen legen, so läge er nun nicht ihr vor den Füßen, am Boden zerstört, darnieder!

Und doch weiß er sich Trost:

War es nicht füglich eine Fügung des Himmels, dass sich das eingebildete Glück mit Zora nicht ausgebildet hatte: wie

eine namenlose Sehnsucht?