Zum Thema: „KALENDERGESCHICHTEN“
Wie man in den Wald hinein …

Schon im Kindergarten hatte man Monika Mechtler, der Tochter eines Mühlviertler Bauern, den Sinnspruch beigebracht:
„Was du nicht willst, dass man dir tu,
das füg auch keinem andern zu!“
Als Kind hatte sie diese Regel meist auf Tiere bezogen, gegenüber ihren Mitschülern hielt sie sich damit nicht auf. Nein, so zimperlich war sie nicht. Wem etwas nicht passte, der konnte sich ja wehren.
Dass sie nun, als ledige Bäuerin mit 40 Jahren, durch ein Erlebnis noch einmal daran erinnert werden sollte, hatte sie nicht erwartet.

Bernd Buchser lebte und arbeitete in der Stadt, was nichts an seiner Liebe zur Natur änderte. Schon als junger Mann war er, sobald es seine Zeit erlaubte, aufs Land und – wie er seinen Freunden, die ihn für allerlei Geselligkeiten gewinnen wollten, sich entschuldigend, erklärte – „hinaus in die Natur“ gefahren, dort streifte er durch Wälder oder wanderte von Ort zu Ort. Dabei hatte er stets offene Augen für die „Wunder der Natur“, wie er es nannte, für das Keimen und Sprossen im Frühling, für das Reifen im Sommer, für die Ernte im Herbst und für die weiße Schneedecke, die der Winter wie zur Erholung und Besänftigung über die Natur warf.
Bernds Naturverbundenheit ging soweit, dass er sich nichts sehnlicher wünschte als ein Häuschen am Land, in den Bergen oder am Waldesrand, wo er die Veränderungen in der Natur beobachten und miterleben, von wo aus er seine Ausflüge ins Grüne unternehmen könnte.
Mit 45 hatte er so viel angespart, dass er sich diesen Wunsch erfüllen durfte.
Er erstand ein verlassenes Bauernhaus inmitten dreier anderer, noch bewirtschafteter Höfe auf der Mühlviertler Alm, in der Einschicht, außerhalb eines Marktfleckens, zwischen saftigen Wiesen, unweit eines bedrohlichen, aber zugleich schützenden Waldes.
Hier war die Umwelt noch nahezu unberührt, noch in Ordnung. Außer Viehzucht und Ackerwirtschaft, Gemüseanbau und Holzbringung griff nichts in den natürlichen Ablauf der Geschehnisse ein. Die „Segnungen der modernen Zivilisation“ oder gar der Globalisierung waren noch nicht bis hierher gedrungen.
Jede freie Minute steckte Bernd in die Wiederherstellung und Einrichtung („Renovierung und Adaptierung“ würden die Städter sagen) seines Bauernhauses, und trotzdem nahm er sich täglich die Zeit, sich „in der Natur zu ergehen“, wie er seine Spaziergänge und Ausflüge in Feld und Wald poetisch angehaucht und verherrlichend nannte.
Mit den Nachbarn pflegte er freundlichen Umgang, manchmal erfuhr er von ihnen Hilfsdienste, manchmal bot er sich dazu an, ohne aber eine so enge Beziehung einzugehen, die für ihn Abhängigkeit oder Selbstverzicht bedeutet hätte.
Man duzte einander, weil das im Mühlviertel Gang und gäbe ist, ohne dass es besonderer Vertraulichkeit bedarf.

Heuer im Sommer ging Bernd gegen Abend in den nahen Wald, um seine Freunde, die Bäume, zu besuchen und den Singvögeln zu lauschen.
Da kam ihm die Nachbarsbäuerin Monika entgegen, von der er nie vermutet hätte, dass sie neben ihrer unermüdlichen Arbeit am Hof Zeit für einen Waldspaziergang erübrigen könnte.
„Hallo, Monika!“, begrüßte er sie, „ So einsam im dunklen Wald? Wohin des Wegs?“
„Ach“, versuchte sie auszuweichen, „ich hab mich nur ein wenig umgesehen und Pilze gepflückt.“
Jetzt erst bemerkte Bernd, dass Monika einen Korb mit sich trug, aus dem – soweit er sie kannte – Täublinge, Pfifferlinge, Steinpilze und Maronen herauslugten.
„Hast wirklich ‚Püssn‘ gefunden?“ (So sagt man im Mühlviertel zu den Stein-oder Herrenpilzen.)
„Ja, mei! Viele gibt ’s davon nicht. Da war es zu wenig feucht.“
„Aber du kennst wohl die Plätze?“, vermutete Bernd, „Könntest
du mir nicht einen verraten, damit auch ich Pilze finde.“
„So dumm müsste ich sein!“, erwiderte Monika schnippisch, „Damit du mir alles wegpflückst!“
Und während Monika abweisend davonging, dachte Bernd bei sich: Gar nicht freundlich, die Nachbarin! Wenn ich ebenso spräche! Denn diesen Ton verstünden die Bauern schon: „Wie du in den Wald hineinrufst, so kommt es zurück.“
Ein wenig verwundert, aber nicht beleidigt, setzte Bernd seinen Waldspaziergang fort.

Wochen später stieß Bernd bei einem seiner naturnahen Streifzüge durch den Wald tatsächlich auf Steinpilze, die er schonend herausdrehte und an Ort und Stelle reinigte. Eigentlich war er Heidelbeerpflücken gegangen und dabei auf die Pilze gestoßen.
Freudig kehrte er mit seiner „Beute“ heim.
Er bereitete die Steinpilze zu, indem er Butter in einer Pfanne heiß werden ließ und die in schmale Scheiben geschnittenen Pilze, gesalzen und gepfeffert, auf beiden Seiten briet. Als persönliche Verfeinerung streute er Korianderkörner darüber.
Die Blaubeeren machte er mit Sauerrahm und Zucker an.
Zu diesem Gericht lud er – zu ihrer großen Überraschung – Monika ein, die nicht wenig staunte, wie einfach der Herr Nachbar die „Püssn“ zubereitet hatte, sie röste dafür immer Zwiebel an und gäbe Petersilie dazu, so naturbelassen schmeckten sie aber noch köstlicher.
Also genossen die beiden „ein gar nahrhaftes Mahl“, das insofern besonders bekömmlich war, als es die Nachbarn nicht nur einander näher brachte, sondern den schroffen Ton der letzten Begegnung im Wald vergessen ließ.
Als Monika zwei Stunden später noch wach in ihrem Bett lag, fiel ihr mit einem Male wieder der Spruch aus dem Kindergarten ein. Wie wäre sie dagestanden, hätte Bernd Buchser sie – nach Pilzfundstätten fragend – ähnlich forsch abgewiesen!
Und jetzt hatte er – anstatt gekränkt zu sein und ihr übel zu wollen – sogar seine Pilze mit ihr geteilt, ihr ein neues Rezept erklärt und selbstgepflückte Heidelbeeren als Nachtisch kredenzt.
Das war ihr eine „Lektion“!
Und bevor sie zufrieden einschlief, nahm sie sich noch fest vor, Bernd bald zu sich, zum Essen einzuladen – und vielleicht auch noch zu mehr …
H. H. HADWIGER